"Es lohnt sich immer, in Menschen zu investieren"

"Es lohnt sich immer, in Menschen zu investieren"

Asylsuchende mit Ausweis N eignen sich in der HandsON-Fabrik im Liebefeld Schlüsselkompetenzen für den Arbeitsmarkt an. / Les demandeurs d'asile avec livret N acquièrent des compétences clés dans l’usine HandsON au quartier Liebefeld.
Asylsuchende mit Ausweis N eignen sich in der HandsON-Fabrik im Liebefeld Schlüsselkompetenzen für den Arbeitsmarkt an. / Les demandeurs d'asile avec livret N acquièrent des compétences clés dans l’usine HandsON au quartier Liebefeld.
© F. Gurzeler / Lizenzfrei

Die Heilsarmee beschreitet neue Wege: Mit dem Projekt HandsON werden Flüchtlinge nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert.

Bis 2019 soll die Reorganisation des Asylwesens auf Bundesebene abgeschlossen sein. Einen Neustart macht auch der Kanton Bern: Zuständig für das Asylwesen ist neu die Gesundheits- und Fürsorgedirektion. Diese will im kommenden Jahr die Aufträge im Asylbereich komplett neu an die Partnerorganisationen vergeben. Ob die Heilsarmee Flüchtlingshilfe (HAF), die zur Zeit die Hälfte aller Asylsuchenden im Kanton Bern betreut, ihren behördlichen Auftrag weiterführen wird, ist deshalb offen.

Bedingung dafür wäre, dass die HAF inskünftig Flüchtlingen nicht nur eine Unterkunft und Deutschkurse bietet, sondern diese auch in den Arbeitsmarkt integriert. Im Bestreben, die neuen Forderungen proaktiv zu antizipieren, hat die HAF das Projekt HandsON lanciert. Dieses steht unter der Leitung von Beat Habegger und sieht einige sehr früh greifende Massnahmen vor, welche die Arbeitsintegration von Flüchtlingen erleichtern.

Bildung, massgeschneidert
„Mit den Personen aus unseren Strukturen wollen wir schon vom ersten Tag an mit Arbeitsintegration beginnen“, sagt Beat Habegger. Dabei handelt es sich um rund 1500 Asylsuchende mit Ausländerstatus N, die in den Kollektivunterkünften (KU) der HAF oder in Privatwohnungen leben, mit Freiwilligen oder im Lern•Punkt Deutsch lernen und in Gemeinnützigen Beschäftigungsprogrammen GeBePro arbeiten. „Mit HandsON entwickeln wir ein System, das bereits im N-Bereich erfasst, wo die Kompetenzen, Bedürfnisse und Potentiale dieser Personen sind. Nur so können wir sie gezielt fördern und fit machen für den Arbeitsmarkt“, so Habegger.

Die Voraussetzungen sind sehr unterschiedlich: Die einen Asylsuchenden haben einen Beruf oder einen akademischen Hintergrund, andere waren vielleicht Schafhirten oder sind Analphabeten.  „Geplant ist, dass jede Person ein massgeschneidertes Bildungsangebot mit Sprachkursen, Einsätzen und Bewerbungsmodulen bekommt. Als Gegenleistung erwarten wir Engagement und Initiative“, präzisiert der Projektleiter.

Ein durchgehender Prozess
Zum Zeitpunkt, wenn eine Person vom Status N (asylsuchend) in den Status F (vorläufig aufgenommen) wechselt, muss mit ihr - so die Auflage des Kantons - eine Standortbestimmung und ein Integrationsplan erstellt werden. Dabei werden die Ziele definiert, wie bei der betreffenden Person die Arbeitsintegration aussehen könnte.

Das Projekt HandsON sorgt dafür, dass für die Standortbestimmung bereits Daten zur Verfügung stehen. „Dank unseres System der Früherfassung ist Arbeitsintegration nicht erst ein Thema, wenn die Ausweisfrage geklärt ist. Zum Zeitpunkt des Status-Wechsels ist über die betreffende Person bereits ein Dossier vorhanden“, erklärt Beat Habegger. Dieses enthält Informationen über die Wohnsituation, über geleistete Arbeitseinsätze, Sprachkompetenzen, Fähigkeiten und allfällige Lücken, die aufgefüllt werden müssen. „Ein solcher ganzheitlicher und durchgehender Prozess eröffnet die Chancen für eine nachhaltige Integration“, ist Habegger überzeugt.

Job-Coaches beraten und vermitteln
Für diese Aufgabe stehen seit Mai dieses Jahres bei der HAF fünf Job-Coaches im Einsatz. Diese Job-Coaches bekommen die Dossiers der Personen, die in den Status F wechseln, und erstellen mit ihnen die Standortbestimmung und den Integrationsplan. „Unsere Aufgabe ist, vorläufig Aufgenommene beruflich zu integrieren“, sagt Job-Coach Katrin Santschi. „Wir beraten sie bei der Berufswahl und vermitteln Anschlusslösungen wie Praktikums-, Ausbildungs- oder Arbeitsplätze.“

Dazu gehen die Job-Coaches aktiv auf Arbeitgeber zu und bauen zur Zeit ein Netzwerk von Einsatzbetrieben auf. Als Ansprechpartner beraten sie die Arbeitgeber in rechtlichen Fragen oder bei kulturellen Herausforderungen: „Wenn es Schwierigkeiten gibt, sind die Job-Coaches da, um zwischen beiden Seiten zu vermitteln“, erklärt Projektleiter Beat Habegger.

Die Job-Coaches betreuen zur Zeit rund 86 vorläufig Aufgenommene. Sie begeben sich vor Ort in die Kollektivunterkünfte oder empfangen diese Personen in ihren Büroräumlichkeiten im Berner Liebefeld. Jeder der fünf Job-Coaches ist einer Regionalstelle angegliedert - Belp, Bolligen, Burgdorf, Konolfingen oder Langenthal – und arbeitet zusammen mit den dortigen Asylkoordinatoren. Ziel ist, dass Beratungen auch von den Regionalstellen gemacht werden können. 

Pilotprojekt im Liebefeld
Im Erdgeschoss derselben gewerblichen Liegenschaft im Liebefeld, in welcher auch die Job-Coaches einquartiert sind, betreibt HandsON in den Hallen einer früheren Buchbinderei eine spezielle Fabrik. „Es ist ein Labor für Ausweis N“, erklärt der Projektleiter. Die Fabrik, oder eben das Labor, ist ein Pilotprojekt, im dem aktuell 26 Asylsuchende mit Ausländerstatus N in die Bereiche Arbeit und Lernen eingeführt werden.

Taschen für die brocki.ch
„Wir haben in komplett leeren Räumen bei Null angefangen“, erinnert sich Beat Habegger. Zuerst galt es, die Wände einzubauen und zu streichen sowie die Tische, Stühle und Gestellte selber herzustellen. Erst dann konnten die Frauen und Männer den Produktionsbetrieb aufnehmen: Im Auftrag der Heilsarmee brocki.ch stellen sie Einkaufstaschen her. Dazu verwenden sie PVC-Banner, die in Fassadenwerbung zum Einsatz kommen. Die Allgemeine Plakatgesellschaft APG stellt die riesigen Blachen kostenlos zur Verfügung, sofern der Grosskunde gewillt ist, die bunten Banner zu spenden statt zu entsorgen. Die Taschen – jede ist ein Unikat – werden schon bald in den brocki.ch-Filialen verkauft.

Eine kleine Firma
Bei dieser Fabrik handelt es sich keineswegs um eine geschützte Werkstatt, versichert Beat Habegger: „Wir wollen die Arbeitswelt simulieren und den Beweis erbringen, dass wir produzieren können - mit Terminvorgaben, einem gewissen Output, wie eine kleine Firma.“

Ziel ist, dass sich die Asylsuchende hier Schüsselkompetenzen wie pünktliches Erscheinen, Arbeitsqualität und dergleichen mehr aneignen. „Die Qualitätskontrolle ist ein grosses Thema“, sagt Produktionsbetreuerin Fabienne Duss. „Viele Enderzeugnisse sind noch mangelhaft. Da stellt sich immer die Frage: Was lassen wir durch, was nicht?“ Oft hätten die Asylsuchenden ein ganz anderes Qualitätsverständnis. „Es ist unsere Aufgabe, ihnen beizubringen, was in der Schweiz erwartet wird – auf die Gefahr hin, dass wir pingelig wirken“, so Duss. Die Betreuungspersonen, ein Mix zwischen Handwerker und Arbeitsagogen, bewerten die Arbeitenden regelmässig, damit diese wissen, wo sie in Bezug auf ihre Zielsetzung stehen.

Deutsch, Mathematik und Computer
Im hinteren Teil der Halle befindet sich der Schulungsraum. Zwei Lehrpersonen vom Lern•Punkt unterrichten die Gruppen in zwei unterschiedlichen Stärkeniveaus. Die Asylsuchenden haben diverse Fächer wie Deutsch, Mathematik oder der Umgang mit dem Computer. Dieses Bildungsangebot ist Bestandteil ihres Lohns für die geleistete Produktionsarbeit. „Wir können ihnen sagen: Ihr arbeitet für eure Integration!“, so Habegger. Hinzu erhalten Sie auch ein ÖV-Abo (die Bushaltestelle ist vor dem Haus) sowie einen symbolischen Lohn von 150 Franken im Monat.

Der Standort in der Gewerbezone im Liebefeld ist vorteilhaft. „Unser Ziel im nächsten Jahr wird es sein, uns mit den umliegenden Firmen zu vernetzen, damit wir Produktionsaufträge einholen sowie auch unsere Leute in verschiedene Betriebe zum Schnuppern oder für Praktika vermitteln können“, lautet der Ausblick des Projektleiters.

Weitere Betriebe sind geplant
Was hier im Liebefeld als Pilotprojekt versucht wird, soll danach auf breiter Skala umgesetzt werden. „Wir entwickeln Module. Sobald wir feststellen, dass es funktioniert, können wir sie auf andere Betriebe übertragen.“ Beat Habeggers Aufgabe als Projektleiter ist es, ein System zu entwickeln, durch welches  1000 Personen arbeitsintegriert werden könnten. Entsprechende Angebote sollen überall dort eröffnet werden, wo die HAF mit Regionalstellen vertreten ist.

Was ist, wenn ein Asylsuchender nicht aufgenommen wird und in seine Heimat zurückreisen muss? „Das ist unser Risiko“, sagt Beat Habegger. „Aber wir haben die Haltung, dass es sich lohnt, in Menschen zu investieren, selbst wenn sie einen negativen Entscheid bekommen. Die erworbenen Fähigkeiten können sie in ihrem eigenen Land wieder nutzbar machen.“

Autor
Livia Hofer

Publiziert am
3.10.2017