Sie drängen darauf, Deutsch zu lernen

Sie drängen darauf, Deutsch zu lernen

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Die Familie Iqbali lebt in einer Unterkunft der Heilsarmee. Ihr grösster Wunsch ist es, Deutsch zu lernen.

Der Familie Iqbali steht in der Unterkunft in Aarwangen nur wenig Raum zur Verfügung. Für sie sind die Platzverhältnisse aber nicht das Wichtigste. Sie drängen darauf, Deutsch zu lernen

Kleine Heimat
Die Familie Iqbali ist aus ihrer Heimat in Afghanistan geflohen. Nach einer langen Reise leben sie, mittlerweile zu fünft, in einem Zimmer in der Asylunterkunft in Aarwangen. Sie sehen das Positive und hoffen, in der Schweiz ein neues Daheim zu finden. Vor der Tür zum Zimmer der Iqbalis hängt ein helles orangefarbenes Tuch. Vater Fahim zieht seine Schuhe aus, schiebt das Tuch beiseite und öffnet die Tür. «Welcome», sagt er. Hier, auf diesen vier mal vier Metern, ist seine fünfköpfige Familie zu Hause. In der Mitte des Raums steht strahlend die Mutter Hassina; auf dem Arm hält sie den jüngsten Sohn Sina.

Seine Schwester Somaya und Bruder Sohayl sitzen unruhig auf dem Bett. Die Iqbalis mögen es hier, und sie freuen sich da zu sein, auch wenn sie dies unfreiwillig tun. Die Iqbalis wohnen in der Kollektivunterkunft Aarwangen, wo Flüchtlinge, Menschen in laufenden Asylverfahren und Nothilfebezüger unter der Leitung der Heilsarmee untergebracht sind. Die Familie stammt aus Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Fahim Iqbali war der Rektor einer Schule, Hassina Iqbali unterrichtete Dari, Afghanistans Lingua franca.

Sie hatten ein Haus und ein Auto. Doch ihre Welt geriet aus den Fugen. Die Taliban begingen Anschläge und Entführungen, 2015 kam zu dieser Bedrohung diejenige des Islamischen Staates hinzu. «Nachts gab es immer Schiessereien und Explosionen», sagt der Vater. Sie sahen sich gezwungen, das Land zu verlassen.

«Es war zu gefährlich.» Von der Türkei gelangten Fahim, Hassina, Somaya und Sohayl über den Seeweg nach Griechenland, wo sie mehrere Monate in einem Flüchtlingslager verbrachten. «Es war heiss, und es kamen Schlangen in unser Zelt», sagt Hassina Iqbali. Zu Fuss zogen sie weiter, und nach einer Zeit in einem zweiten Lager in Ungarn, wo Sina zur Welt kam, erreichten sie im Januar die Schweiz. Die Reise hatte zwei Jahre gedauert.

So kam es, dass die Familie Iqbali nun in diesem kleinen Fleck Oberaargau heimisch wurde. Im Bett auf einem Alugestell schlafen die Eltern mit dem neun Monate alten Sina, in einer Krippe in der Ecke schläft der vierjährige Sohayl, Somaya, die sechs ist, legt sich auf das kleine Sofa. Ein Tischchen mit einem Wasserkocher und zwei Spinde vervollständigen die Möblierung.

Teppich aus dem Brockenhaus
Hassina Iqbali serviert Tee und Nüsschen. «In Afghanistan würden wir mehr anbieten», sagt sie entschuldigend.«Dort macht man für Gäste alles.» Ein weinroter orientalischer Teppich am Boden erinnert an das Herkunftsland. «Den haben wir aus einem Brockenhaus in der Nähe», sagt sie. Er sei zwar nicht aus Afghanistan, sei aber ähnlich wie die Teppiche, die sie in ihrem Haus in Kabul hatten. Ein paar andere Dekorationen hätten sie von der Heilsarmee erhalten, um den Raum etwas gemütlicher zu machen.

Es hängen Plüschtiere und ein paar Bilder an der Wand, ebenso ein Foto von Somaya an ihrem sechsten Geburtstag. Die KU Aarwangen war einst ein Knabenheim, und so veraltet wie dieser Begriff klingt, sind auch viele der Einrichtungen im Gebäude: Von den Rollläden blättert die graue Farbe ab; die Gänge sind dunkel und kühl. Das Zimmer der Iqbalis ist eng, in der Schweiz haben fünfköpfige Familien meistens beträchtlich mehr Bewegungsraum. Der Vater sieht aber das Positive: «Es ist schön, dass die ganze Familie so nahe beieinander lebt.» Am Tischchen würden sie immer gemeinsam essen.

Ein paar Türen weiter befindet sich die Gemeinschaftsküche, die sich etwa zwanzig Bewohner teilen. «Am Mittag muss man lange anstehen, um die Küche zu benutzen», sagt die Mutter. Deswegen koche sie das Essen oft schon um 10 Uhr. Meistens gebe es Spaghetti oder Reis, manchmal aber auch afghanische Speisen. «Ab und zu mache ich Qabuli Pulau», sagt sie. Um das Reisgericht mit Fleisch, Rosinen, Karotten und Pistazien zuzubereiten, müsse sie jedoch von einer anderen Familie einen Dampfkochtopf ausleihen.

Sprache öffnet Türen
Die Schweiz hätten sie vor der Ankunft nicht wirklich gekannt, sagen die Eltern. «Wir wussten nur, dass es hier sicher ist und dass die Gesetze streng sind», sagt Fahim Iqbali. Was ihnen aber jetzt vertraut ist, mögen sie: In Aarwangen fühlen sie sich wohl, gerne gehen sie mit den Kindern in den Park oder der Aare entlang spazieren. «Die Menschen sind sehr lieb zu uns, die Landschaft ist wunderschön.» Es brauche aber noch Zeit, bis man sich an das neue Land gewöhnt habe. Als Lehrer kennen die beiden die Wichtigkeit von Sprachkenntnissen. Nun müssen sie selbst zu Schülern werden. «Erst, wenn wir Deutsch können, können wir da richtig zu Hause sein», sagt Fahim Iqbali. Die Eltern beneiden ihre Kinder.

«Wenn man klein ist, geht das viel schneller», sagt der Vater. «Somaya und Sohayl sprechen mit den anderen Kindern in der Unterkunft nur Deutsch.» Ein Satz, den er bereits gelernt hat, lautet: «Kommt ihr spielen?» Es ist die Frage, die seine Sprösslinge jeden Abend an der Zimmertür hören. Doch Fahim und Hassina Iqbali wünschen sich grössere Fortschritte - deswegen besuchen sie gleich zwei Sprachkurse. «Mit zwei Lehrern und zwei Lehrbüchern ist es etwas kompliziert», sagt er.

Bei Einkäufen im Denner versuchten sie, die gelernten Sätze anzuwenden. Doch das Englisch, mit dem sie sich in Europa durchgeschlagen haben, ist vom Segen zum Fluch geworden. «Hier in der Schweiz können alle Englisch», sagt sie. «Wenn die Leute hören, dass ich Englisch spreche, reden sie kein Deutsch mehr mit mir.»

Entschlossen, hier neu anzufangen
Die Iqbalis haben ihr kleines Refugium im Kanton Bern und die Umstände, die sie hierhin geführt haben, nicht ausgewählt. Zudem ist ihre Zukunft alles andere als gewiss. Ob sie in der Schweiz bleiben dürfen, ist genauso unklar wie der Zeitpunkt des Entscheids darüber. Trotz allem sind sie fest entschlossen, in Aarwangen mit dem Wiederaufbau ihres Lebens zu beginnen. Fahim Iqbali meint, dass dies schrittweise passieren wird. «Kann man Deutsch, ist es viel einfacher, eine Arbeit zu bekommen.» Weil er noch in einem laufenden Asylverfahren und deswegen im Arbeitsmarkt zuhinterst in der Reihe steht, macht er bei der Reinigung der KU mit. Diese Aufgabe helfe, die Zeit zu vertreiben. «Einfach im Zimmer zu sitzen und nichts zu tun, ist langweilig.» Der Umbruch in seinem Leben hat ihm viel Anpassungsfähigkeit abverlangt. «Ja, in Kabul war ich Rektor, und hier putze ich Toiletten», sagt er. «Das ist aber unwichtig. Das Wichtigste ist, dass meine Frau und meine Kinder hier sicher sind.» Der Lehrer scheint bei ihm immer noch durch. Auch diesen Teil seines alten Lebens will er in der neuen Heimat beibehalten. Nächstes Jahr wird Somaya im Schulalter sein.«Ich freue mich darauf, ihr mit Matheaufgaben zu helfen.» Er und seine Frau, beide selber Lehrer, haben gleich zwei Sprachkurse belegt.

37 Franken für eine Familie
Das längliche Gebäude in der Nähe des Aarwangener Schlosses wird seit 1989 von der Heilsarmee als Kollektivunterkunft (KU) genutzt. Sie hat eine maximale Kapazität von etwa 180 Personen, momentan leben dort knapp 150 Menschen. Das Gebäude verfügt über 56 Bewohnerzimmer unterschiedlicher Grössen, über sieben Gemeinschaftsküchen sowie weitere Räume wie Nähatelier, Waschküche und Kinderspielraum. Eine fünfköpfige Familie, die in einer Kollektivunterkunft wohnt, erhält vom Kanton Bern 37. 50 Franken pro Tag, also etwas über 7 Franken pro Person und Tag. Durch die Teilnahme am KU-internen Putzprogramm können noch zusätzliche 3 Franken pro Tag verdient werden.

ln der Serie «Kleine Heimat» stellen Menschen einen Ort vor, der ihnen sehr wichtig ist. Der heutige Text scheint nicht in die Reihe zu passen, da er von einer Familie handelt, die ihre Heimat verlassen hat. Und doch: Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass dieses Zimmer in der kühlen Unterkunft weit mehr ist als bloss ein Ort, an dem Iqbalis sicher sind.

Autor
Die Redaktion / Quelle: Der Bund (16.08.2018)

Publiziert am
16.8.2018