«Ich gewinne an Würde zurück»

«Ich gewinne an Würde zurück»

Die Pandemie hat die prekäre Situation von Randständigen zugespitzt. Das Genfer Heilsarmee-Hotel Bél'Esperance beherbergt Obdachlose.

Clara* (42) kann ihr Glück kaum fassen. Nachdem sie jahrelang auf einer Bank im Flughafen Cointrin übernachtet hat, schläft sie nun in einem richtigen Bett, sogar im ­eigenen Zimmer: "Das ist der totale Luxus hier!"

Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung verkroch sich monatelang in den eigenen vier Wänden – und steckt die Nasenspitze erst jetzt wieder zaghaft heraus.

Obdachlose aber haben keinen Rückzugsort: Viele Suppenküchen und Notschlafstellen schlossen oder fuhren ihren Betrieb wegen der Abstandsregeln herunter. Und regelmäs­siges ­Händewaschen ist auf der Gasse kaum möglich. Die Pandemie verschärfte die ohnehin prekäre Situa­tion der Randständigen.

Drei­sternehotel als neue Unterkunft
Clara hat Glück. Seit Mitte März muss sie sich nicht mehr um einen Schlafplatz bemühen: Sie lebt im Genfer Bel’Es­pé­rance, fünf Mi­nuten vom Seeufer. Das Drei­sternehotel beherbergt der­zeit 20 obdachlose Frauen und ein Dutzend minderjährige Flüchtlinge.

Hoteldirektor Alain Meuwly: «Als Ende Februar der Flugverkehr einbrach und die Veranstaltungen ­abgesagt wurden, stornierten 90 Prozent der Gäste ihre Buchung!» Gleichzeitig suchte der Kanton Unterkünfte für Obdachlose während der Pandemie. «Wir sagten uns: Wenn die Zimmer schon leer stehen, soll wenigstens jemand davon profitieren.» Für seine An­gestellten hat er Kurzarbeit beantragt, Sozialarbeiter des Kantons betreuen die neuen, etwas anderen Gäste."

Das Hotel gehört der Heilsarmee, wird aber kommerziell betrieben. Für gewöhnlich bringt das gutes Geld: «Die meisten Gäste sind geschäftlich in Genf und zahlen pro Nacht 120 bis 300, während des Autosalons bis zu 600 Franken.»

Für Hafida (42) aus dem marokkanischen Oujda wären diese zwölf Quadratmeter Lebensraum eigentlich unbezahlbar. Sie arbeitete für arabische Diplomaten­fami­­lien, kochte, hütete ­Kinder. Eines ­Tages kam die Kündigung, dann das Obdach­losenheim. «Mir gibt die Zeit hier mehr als ein Dach über dem Kopf: Ich ­gewinne meine Würde zurück!»

«Ich hatte grosse Angst, mich anzu­stecken»
Eine Etage höher wohnt Fatou (44). Sie schminkt sich und erzählt: «Ich hatte grosse Angst, mich anzu­stecken. In den Notstellen übernachten viele Frauen auf engstem Raum!»

Auch Amir* (16), der ­allein von Algerien in die Schweiz flüchtete, schläft nun ruhiger: «Es gibt einen Fernseher und Internet. Jetzt kann ich täglich mit meinen Eltern chatten.» Nur auf das digitale Tablet und die Kaffeemaschine muss er verzichten; Gadgets wurden aus den Zimmern entfernt.

Die Bewohner packen mit an, helfen beim Tisch­decken und beziehen die Betten selbst. «Der Komfort in den Zimmern ist aber ­genau wie sonst», so Hoteldirektor Meuwly.

Menüs von Spitzenköchen
Für das Essen kommt der Kanton auf. Und letzte ­Woche zauberten Spitzen­köche ehrenamtlich Menüs für die Bewohner, weitere 1000 Lunchboxen gingen an Armutsbetroffene in der ganzen Stadt. Chef ­Walter el Nagar, 15 Gault-Millau-Punkte: «In Krisen sind es immer die Ärmsten, die am meisten leiden – deshalb mein Engagement.»

Sicher ist: Die Krise machte die Armut in der Schweiz sichtbar. In Genf standen kürzlich Hunderte stundenlang für eine Tasche mit Gratislebensmitteln an.

Zurück in Fatous Zimmer: Das Bel’Espérance ist ihr Zufluchtsort geworden, hier kann sie einige Wochen ein normales Leben führen, bis Anfang Juni. Dann nimmt das Hotel den Betrieb wieder auf. Die Rückkehr in die Realität dürfte hart werden.

Autor
Quelle: Blick (18.05.2020)

Publiziert am
18.5.2020