Andacht

Andacht

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Rohdiamanten (ca. 2000 Zeichen)

Als “Rohdiamanten” bezeichnet einer meiner Kollegen die Menschen, die im Gefängnis gelandet sind. Ein provozierender Vergleich in den Augen von Vielen. Aber … lassen Sie mich eine Geschichte erzählen.

Da ist ein junger Mann, aufgewachsen in feudalen Verhältnissen. Verhätschelt, verwöhnt, beneidet wohl auch. Er gerät in eine Situation, die sein Blut überkochen lässt, er wendet Gewalt an und entzieht sich der Bestrafung durch Flucht ins Ausland.

Nach langem Herumirren wird er entdeckt. Die ihn finden, nehmen ihn bei sich auf, denn Gastrecht wird in ihrer Kultur gross geschrieben. Der Flüchtling kommt zur Ruhe, nimmt Teil am Familienleben, arbeitet mit in ihrem Betrieb. Schnell merkt seine Gastfamilie, dass er keinerlei Erfahrung mit praktischer Arbeit hat. Woher auch?

Über seine Vergangenheit, die Fluchtgründe, schweigt er sich aus. Und seine Gastgeber löchern ihn nicht mit Fragen. So wächst das gegenseitige Vertrauen - und es wächst auch die Zuneigung zwischen einer der Töchter und dem Dahergelaufenen.

Die Familie sieht in ihm den Rohdiamanten. Feierlich werden die beiden vermählt, und es wird eine glückliche Ehe. Die Geschichte endet mit einem Happy End, nachzulesen in der Bibel. Es ist die Geschichte von Zippora, Tochter des Jitro und Ehemann von Mose.

Sichtwechsel: Was wäre mit dem Straftäter passiert, wenn «Jitro» anders gehandelt hätte? Auf heute übertragen: Was passiert mit den jungen Männern, die in unserer Zeit nach dem Absitzen einer Straftat entlassen werden? Finden sie Menschen, die bereit sind zum Vorschussvertrauen?

Wir haben diese Aufgabe der Wiedereingliederung delegiert an Einrichtungen wie den Bewährungsdienst. Das ist gut und berechtigt, aber ersetzt es das Engagement von Privaten, von Christen?

Und als letzte Frage: Wäre Mose zu der Person geworden, die Gott berufen konnte, wenn da kein Jitro gewesen wäre?

Wir wissen es nicht, aber ich finde, das Nachdenken darüber lohnt sich.

Autor
Majorin Hedy Brenner

Publiziert am
19.5.2020