Andacht

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Woraus schöpfen wir Kraft, wenn wir uns einsam oder ungerecht behandelt fühlen? (9770 Zeichen)

Wir kennen es alle. Es gibt Tage, an denen wir uns vollkommen alleingelassen fühlen. Wir sind enttäuscht. Werden enttäuscht. Dieses Gefühl, eine Mischung aus Hilflosigkeit, Einsamkeit und empfundener Ungerechtigkeit, ist nachvollziehbar. Gerade dann, wenn wir nach unserem irdischen Gerechtigkeitsempfinden urteilen und uns dadurch ungerecht behandelt fühlen. In unserem Arbeitsleben gibt es derartige Enttäuschung nicht selten. Doch was können wir tun? Was hilft uns, aus diesem emotionalen Tief herauszukommen? Wie sehen wir wieder das Licht im Dunkel? Was gibt uns Hoffnung und Kraft?

Es können kleine Momente im zwischenmenschlichen Umgang sein. Blicke. Gesten. Tröstende Worte. Jede Situation, so kurz sie auch sein mag, kann einen wesentlichen Wendepunkt darstellen. Wichtig ist, dass alles im Guten, im Gerechten, im Ehrlichen passiert. Aus einem inneren Bedürfnis heraus. Und die Gewissheit, dass wir nicht alleine sind. Und dies auch nicht sind. Ich könnte auch sagen: «Eigentlich ist es einfach, wenn wir uns auf die wesentliche Dinge, die das Leben ausmachen, besinnen». Um Zeiten der Not, der Hilflosigkeit zu überdauern, hilft uns der Glaube. Er stärkt uns. Hier kann uns das Wort Gottes, die Bibel, mit ihren Geschichten und den bezeugten guten Taten des Sohnes Gottes, Jesus Christus, eine Orientierung bieten.

Seit ich in der Bibel lese und mir Zeit nehme, über das Wort nachzudenken und mit meinen Mitmenschen darüber zu diskutieren, finde ich in meinem Leben, in meinem Alltag, noch mehr Gewissheit, dass jeder von uns Menschen von Gott geliebt ist, und dass wir jeden Tag aufs Neue dankbar sein dürfen für das, was er uns in Fülle schenkt.

Kürzlich bin ich in die Stadt gefahren, um meine Hemden von der Reinigung abzuholen. Eine Situation aus dem Alltag. Ich bringe üblicherweise meine Hemden dorthin. Nicht, weil wir die Hemden zuhause nicht selbst waschen und bügeln könnten, oder weil es besonders günstig wäre. Nein. Zum einen ist es ein Stück Gewohnheit geworden, diesen qualitativ hochwertigen Service in Anspruch zu nehmen. Zum anderen schätze ich die kurzen Momente, wenn ich die Hemden dort abgebe oder abhole. Die Momente, in denen sich ein kurzes Gespräch mit anderen Menschen ergeben kann. Es sind immer wieder besondere Momente, denn jedes Mal ist die Begegnung verschieden. Einmal stehen etliche andere Kunden vor mir in der Schlange. Alle wartend, schweigend, bis sie an der Reihe sind und bedient werden. Ein anderes Mal herrscht eine weniger anonyme Stimmung. Dann beispielsweise, wenn es zu einer Unterhaltung kommt, weil sich zwei Bekannte zufällig begegnet sind. Oder weil sich zwei Menschen, die sich begegnen, sympathisch genug sind, eine Unterhaltung zu beginnen. Wieder ein anderes Mal herrscht eine gereizte Stimmung, und man erlebt förmlich den Unmut der anderen Kunden mit. Es kann aber auch passieren, dass kein Kunde im Laden ist, und ich gleich an die Reihe komme.

Es war an einem Freitag im Februar, und ich fuhr mit den Auto auf den Parkplatz des Geschäftes vor. Ich freute mich, denn bereits beim Blick in den Laden sah ich, dass heute die nette Verkäuferin, die mich immer direkt mit meinem Nachnamen anspricht, Dienst hatte. Ich finde es sehr wertschätzend, mit dem Namen angesprochen zu werden. Das erwarte ich nicht. Es schafft aber eine ungeheuerlich grosse Brücke aus der Anonymität heraus. Dass sie das tut, und sich Namen gut merken kann, hatte ich auch meiner Frau erzählt.

Bereits beim Betreten der Textilreinigung bemerkte ich ihr trauriges Gesicht. Vorsichtig fragte ich sie, ob es ihr gut gehe. Sie reagierte darauf mit einem bekennenden Schweigen und wandte ihr Gesicht der vor ihr liegenden Arbeit auf dem Tresen zu. Ein zweites Mal fragte ich sie, ob es ihr denn gut gehe, und ob ich etwas für sie tun könne. Dann entschuldigte sie sich und verschwand, mit einem Schluchzen, im hinteren, abgetrennten Bereich des Verkaufsraums. Nach einem kurzen Moment kam sie wieder nach vorne. Nachdem sie ihre Fassung wiedererlangt  und sich beruhigt hatte, schilderte sie mir Stück für Stück, warum sie weinen musste.

Sie erzählte mir, dass es ihr nicht gut gehe, weil sie gerade jetzt sehr enttäuscht ist und sich sehr alleingelassen fühlt. Denn ihr Kind, ihr Sohn, sei krank und müsste in der nächsten halben Stunde zum Arzt. Ein kurzfristiger Termin. Es wäre auch nicht lebensbedrohlich, so ihre Einschätzung, aber ihr Kind brauche sie, und sie müsse die Arbeit unterbrechen. Doch keine ihre Kolleginnen oder ihr Vorgesetzter hatten genug Verständnis dafür oder die Zeit, um kurzfristig ihren Dienst zu übernehmen. In der Vergangenheit, so erzählte sie mir, habe sie schon selbst öfters anderen aus der Patsche geholfen. Aus Hilfsbereitschaft. Doch nun, wenn sie Hilfe brauche, sei niemand da. Ihr Vorgesetzter habe zwar selbst ein Kind, doch der Geschäftserfolg und das hierarchisch geprägte Anstellungsverhältnis hätten Priorität. Er hatte jedenfalls auch keinen Vorschlag für Sie, wie diese Situation zu lösen wäre, und liess sie in ihrer Entscheidungsfindung vollkommen allein. Er unterstrich sogar den Standpunkt, dass sie den Laden nicht einfach schliessen und gehen könne. Basta.

Rein arbeitsrechtlich, so sagte sie, habe sie allerdings gewisse Rechte, die sie nötigenfalls einfordern würde. Aber ihr war es ein Anliegen, die gesamte Situation möglichst unkompliziert zu regeln. Sie sagte auch, dass der Chef recht streng und stark marktwirtschaftlich orientiert sei. Es habe in der Vergangenheit schon einige Momente gegeben, in denen sie fast gekündigt habe. Die Situation sein mehrmals angespannt gewesen. Auch bei diesem Telefonat war sie kurz davor, das Gespräch mit einer Kündigung zu beenden.

Nach ein paar Minuten des Redens, in denen ich tröstende, aber auch klare Worte möglicher Entscheidungswege fand, fragte ich sie erneut, ob ich ihr noch irgendwie helfen könne. Ich könne mich gut in ihre Situation hineinversetzen. Meine Frau und ich wünschen uns selbst einmal Kinder, sagte ich. Sie sagte, dass sie uns dies auch wünsche. Ich dankte ihr und fuhr fort, dass, wenn ich Vater wäre, dann auch wüsste, wie ich handeln würde und was ich tun müsse. Damit ermutigte ich sie, dass sie sicherlich das Richtige tun werde. Dass ihr das Wohl ihres Kindes klar über der vagen Job-Situation lag, nahm ich eindeutig wahr. Es ging um die Familie, es ging um ihr Kind. Über alles andere, die Situation ihrer Rolle im Geschäft, ihren Chef, die Art seines Umgangs mit Mitarbeitenden und ihre Gutmütigkeit werde sie künftig nochmal genau nachdenken und ihre Konsequenzen ziehen.

Noch einmal fragte ich sie deshalb: "Kann ich etwas übernehmen?" - wohlwissend, dass dies sicherlich kein passender, realistischer Lösungsvorschlag auf die gegebene Situation war. Merklich fielen Trauer, Stress und Druck von ihr ab. Sie dankte mir bei der Verabschiedung, als ich ihr noch einen schönen Tag und gute Besserung für ihren Sohn wünschte. «Allein mit jemandem darüber geredet zu haben, hat mir schon viel geholfen. Danke». Ich war sehr berührt.

Ich selbst möchte auch danke sagen. Danke an meinen Herrn, der mir das Gefühl vermittelt, einem Mitmenschen durch das Wenige, das ich geben konnte, nämlich durch die in meinen Mund gelegten Worte, geholfen zu haben. Danke, dass ich für diese Verkäuferin da sein durfte. Und danke, dass ich sie mit einigen wenigen, empathischen Worten, bei denen ich auf eigene Erfahrungen zurückgreifen konnte, ermutigen durfte. Genau solche Begegnungen wirken nach. Wirken befreiend. Erfüllen. Ich bin einmal mehr davon überzeugt, dass unser Herr genau weiss, wen er wann zu wem schickt, und mit welchem Auftrag er uns als Werkzeug einsetzt. Ich freue mich, juble, hoffe, danke!

Heute durfte ich ein offenes Ohr für eine Verkäuferin haben und sie ihn ihrem Vorhaben bestärken. In genau dem Moment, als ich an der Ladentheke stand, hatte ich ihr trauriges Wesen wahrgenommen. Ich durfte tun, was ich gegenüber meinen Nächsten von Herzen tun würde. Ich fragte sie, ob es ihr gut gehe. Eine einfache Frage war es, die ihr half, über eine Situation zu sprechen, die sie emotional stark forderte und belastete.

Haben wir im Alltag manchmal eine Hemmschwelle, uns jemandem zuzuwenden, der unsere Hilfe braucht? Wie viel können wir geben? Was können wir geben? Was wollen wir geben? Können wir überhaupt geben, was gebraucht wird? Wie lange geben wir? Könnte uns folgende Überlegung oder Sichtweise beim Handeln helfen: Wenn wir wahrnehmen, dass alles «echt» ist, wenn es «stimmig», «glaubwürdig», «authentisch», «wahrhaftig», «direkt» ist, dann kommt es von Gott, dann ist es richtig. So lässt sich manche Hemmschwelle des aufeinander Zugehens, oder manche Baustelle des Zwischenmenschlichen überwinden. Man gibt gerne, und unter Einsatz dessen, was man geben kann. Und dabei werden wir ein Stück mehr zu dem, wie Jesus wirkte und wie er gehandelt hätte.

Ein paar Bibelstellen fand ich, die zu dem Erlebten passen, und die ich teilen möchte: «Sorgen drücken einen Menschen nieder, aber freundliche Worte richten ihn wieder auf.» (Sprüche 12,25). «Jeder sollte geben, so viel er konnte.» (Apostelgeschichte 11,29). «Ladet alle eure Sorgen bei Gott ab, denn er sorgt für euch.» (1. Petrus 5,7). «Deshalb sorgt euch nicht um morgen – der nächste Tag wird für sich selber sorgen! Es ist doch genug, wenn jeder Tag seine eigenen Schwierigkeiten mit sich bringt.» (Mt 6,34).

Halleluja! Amen.

 

Autor
Thomas Leiblein

Publiziert am
1.3.2019