Der Freund meines Vaters - eine Ostergeschichte

Der Freund meines Vaters - eine Ostergeschichte

© James Shepard flickr.com / Lizenzfrei

Die Geschichte der Auferstehung Jesu nach Lukas 8,41, erzählt von der Tochter des Jaïrus (7560 Zeichen).

Es war Sonntag. Das Hausmädchen war eben erst aufgestanden, aus dem Haus hörte man die ersten Geräusche und das Hufgeklapper auf dem Strassenpflaster verriet, dass sich jemand auf den Weg gemacht hatte, um am Ziehbrunnen Wasser zu holen. Der Esel im Stall scharrte ungeduldig auf dem Boden. Er wollte endlich losgemacht werden, damit er auf seine Weide gehen konnte.

Der Tag war angebrochen, doch in unseren Herzen blieb es dunkel und schwer. Meine Eltern hatten einen lieben Freund verloren. Oh, wie froh waren sie, ihn kennen zu dürfen und mit ihm in unserer Stube zu essen. Sie waren ihm unendlich dankbar für meine Heilung. Ja, sein Besuch in unserem Haus hatte wirklich grosses Aufsehen erregt. Stellt euch nur vor, ich lag schwerkrank im Bett. Meine Tanten und alle Nachbarinnen weinten bereits über meinen Tod. Meine Mutter sandte unseren treuen Diener zu meinem Vater. Er sollte ihn auf die traurige Nachricht vorbereiten und ihm mitteilen, dass es keinen Zweck mehr hatte, den Lehrer zu bemühen. Es war zu spät.

Völlig verzweifelt vergrub meine Mutter ihren Kopf in den Händen. Endlos rollten die Tränen über ihr Gesicht. Sie hatten mich schon parfümiert, mir mein schönstes Kleid angezogen, mich gekämmt und mein Haar auf der Decke ausgebreitet, die mir meine Mutter zur Bat Mizwa genäht hatte.

Seit ich in der Synagoge in die jüdische Gemeinde aufgenommen worden war, galt ich als eine junge Erwachsene. Meine Eltern hatten sogar schon einen Ehemann für mich ausgewählt. Mein zukünftiges Leben war geplant und ich war dabei, meine Aussteuer vorzubereiten.

Mein Vater wollte, dass ich bis zu meiner Hochzeit weiterlerne. Dies sei wichtig, damit ich später meinen eigenen Kindern das Lesen und Schreiben beibringen könne.

Also ging ich weiterhin zum Unterricht und lernte aramäisch und hebräisch. Es gefiel mir gut, die geschwungenen Buchstaben zu zeichnen. Ich spürte dabei ein Gefühl der Freude und Zufriedenheit. Ich fühlte mich wertvoll und dadurch in meinem Selbstvertrauen bestärkt. Insgeheim wollte ich Lehrerin werden und andere Mädchen unterrichten, die nicht wie ich die Gelegenheit hatten, zu lernen.
Als man aber an diesem Tag meinen Tod beweinte... kam mein Vater nach Hause, der Lehrer war bei ihm. Dieser bat alle, mein Zimmer zu verlassen und mit dem Weinen aufzuhören, denn laut ihm war ich nicht tot. Ich schlief nur!

Meine Mutter erzählte mir später, dass auch sie an seinen Worten gezweifelt hatte, da mein Tod bereits vom Arzt bestätigt worden war. Aber der Freund meines Vaters fuhr fort und sagte mit Nachdruck, er wolle mit mir und meinen Eltern allein sein.

Ich weiss nur noch, wie ich meine Augen öffnete und seine Stimme hörte. Er sprach mit meiner Mutter und forderte sie auf, mir etwas zu essen zu geben. Noch nie hatte ich solche Kopfschmerzen gehabt wie in dem Moment, als ich zum letzten Mal eingeschlafen war. Doch nun waren die Tränen versiegt und in unser Haus zog eine grosse Freude ein und es war ein tiefer Respekt für den Lehrer spürbar. Wer noch vor kurzer Zeit gespottet hatte, wurde stumm. In unserem Haus herrschte eine Atmosphäre der Dankbarkeit, der Freude und des Friedens.

Von diesem Tag an ging mein Vater oft zum Lehrer. Er hörte ihm zu und blieb manchmal mehrere Tage bei ihm. Er wollte seinen Freund begleiten und von ihm lernen. Wenn er dann zurückkehrte, war er verändert. Er erzählte uns von dem, was der Lehrer gesagt hatte, von den Wundern, die er tat. Er berichtete, dass seine Autorität selbst von den Gesetzeslehrern anerkannt wurde. Sie konnten ihm nichts entgegnen, so tief war seine Weisheit. Er war wirklich ein Mann Gottes, ein grosser Prophet.
Doch zum Entsetzen aller gab es Menschen, die ihn töten wollten. Sie sagten, was er tue, sei Gotteslästerung und er halte sich sogar selbst für Gott.

Dann fiel das Urteil. Sie riefen die Menge auf, ihn zu kreuzigen. Es schien sogar, dass einer seiner Schüler ihn für Geld verraten hatte. Er wurde also gekreuzigt und starb zwischen zwei Räubern. Meine Eltern waren am Boden zerstört. Wie konnte ein Mensch, der so viel Gutes getan hatte, so gehasst werden? Niemand wagte es, sich dem Urteil zu widersetzen. Und die wenigen Jünger oder Freunde, die es taten, wurden geschlagen und aus dem Gericht verwiesen, in dem das Urteil gesprochen worden war. Jetzt war er schon drei Tage tot. Die Soldaten hatten den Befehl, sein Grab zu bewachen, denn die Anführer des Volkes befürchteten, dass die Jünger den Körper des Lehrers stehlen würden. Der Lehrer hatte seine Auferstehung angekündigt! Meine Mutter und einige andere Frauen wollten zum Grab gehen, um seinen Körper einzubalsamieren.

Draussen war noch alles ruhig. Ich hörte, wie meine Mutter ihre Nachbarin rief und ihr dann leise etwas zuflüsterte. Anschliessend kam sie wieder ins Haus und holte ein Parfümfläschchen hervor, das sie bisher sorgfältig aufbewahrt hatte. Sie grüsste meinen Vater. Er gab ihr seinen Segen, öffnete die grosse Holztür und versicherte sich, dass auch die Nachbarin bereit war. Dann sprach er zu den beiden: «Tut alles, was nötig ist, um es unserem Freund so angenehm wie möglich zu machen. Verweilt nicht zu lange auf dem Weg und kehrt bald wieder zurück. In diesen Tagen ist es nicht sicher auf der Strasse. Wenn die Soldaten noch bei der Grabkammer stehen, dann wartet, bis sie weg sind, damit sie euch nicht stören.»

Dann sah ich, wie sich die beiden Frauen von unserem Haus entfernten. Ich wäre ihnen gerne gefolgt. Aber mein Vater verbot es mir. Er schaute so ernst, dass ich es nicht wagte, ihm zu widersprechen. Also gehorchte ich ihm. Um ihn zu trösten, holte ich ihm selbst frisches Wasser vom Ziehbrunnen. Als ich aber mit dem Krug in der Hand zurückkam und auf ihn zuging, strich er mir nur übers Haar und sagte, er könne jetzt nichts trinken. Er war einfach zu betroffen.

Die Sonne ging am Himmel auf und wir spürten ihre Wärme bis in unseren Innenhof. Ich freute mich über diese Sonnenstrahlen, denn nachdem mein Vater uns vom grausamen Tod erzählt hatte, den sein Freund erleiden musste, war auch mein Herz gebrochen. Und nun legten sich diese Strahlen wie Balsam über mein Herz und das Bild dessen, der mich geheilt hatte, begleitete und tröstete mich. Ich erinnerte mich wieder an sein sanftes und ruhiges Antlitz.

Um vor der überwältigenden Traurigkeit abzulenken, wandte ich mich wieder meinen Schriften zu. Mein Vater aber wartete den ganzen Morgen auf die Rückkehr meiner Mutter. Seine Angst war greifbar... er schreckte beim leisesten Geräusch hoch. Dann hörten wir plötzlich Stimmen vor dem Haus. Wir stürzten zur Tür und blieben wie gelähmt stehen. Meine Mutter strahlte und ein grosses Lächeln erhellte ihr ganzes Gesicht. Es sah so aus, als ob sie tanzte, und ihre Nachbarin auch!
Sie traten ein und nachdem sie die Tür vorsichtig geschlossen hatte, sagten sie immer wieder. Er ist auferstanden, wir haben es gesehen!!! Er bat uns, es den Jüngern zu erzählen... aber als wir bei ihrem Versteck angekommen waren, taten sie so, als wären wir verrückt! Keiner glaubte uns.

Aber der Lehrer hatte es uns doch angekündet, deshalb sind wir nun hier. Er sagte uns, er gehe selbst zu den Jüngern und wir sollten auf ein klares Zeichen von ihm warten. Er sagte, sie sollten Jerusalem nicht verlassen, sondern gemeinsam warten. Er hat uns versprochen, uns bald wieder zu besuchen: „Bald werdet die Kraft meines Geistes empfangen, der auf euch kommen wird und ihr werdet meine Zeugen sein, bis ans Ende der Welt.» Deshalb warten wir nun und haben dabei eine grosse Ruhe im Herzen.

Er, den die Menschen gekreuzigt haben, wurde nicht vom Tod besiegt. Er ist auferstanden.

 

Autor
Majorin Arlette Reichenbach

Publiziert am
25.2.2019