Der Weg zweier Frauen an den Rand der Obdachlosigkeit und zurück

Der Weg zweier Frauen an den Rand der Obdachlosigkeit und zurück

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Diana und Karola sind dabei, mit Hilfe des Durchgangsheims der Heilsarmee Budapest ein neues Leben zu beginnen.  

Diana ist eine junge, dunkelhaarige Frau, noch keine 30 Jahre alt. Sie wuchs bei ihrer Grossmutter auf, doch daran hat sie keine guten Erinnerungen. In ihrer Kindheit hungerte und fror sie oft und erfuhr seelischen und körperlichen Missbrauch. Als Teenager redete sie sich ein, dass sie der Liebe nicht würdig sei und nicht viel tauge. Als Erwachsene fing sie zweimal eine Beziehung mit dominanten, arroganten Männern an, die sie schlugen. Um das ertragen zu können, griff sie zu Alkohol und Drogen. Ihre Familie erkannte als erste, dass dies ein schwerwiegendes Problem wurde. Ihr Kleinkind kam Ende 2016 zu Adoptiveltern, sie selber in eine Entzugsanstalt.

Dort wurde sie vor einem Jahr entlassen. Zusammen mit einer Freundin ging sie sogleich ins Durchgangsheim der Heilsarmee in Budapest. Hier können wir mit ihr und mit einer ihrer Mitbewohnerinnen, Karola, sprechen. Das Heim bewahrte sie davor, auf der Strasse zu leben. Heute arbeiten beide und kämpfen für ein besseres Leben. In der Institution helfen ihnen auch ein Heilsarmeeoffizier und ein Psychologe bei der Heilung.

Ich spreche mit den zwei Frauen im Gemeinschaftsraum des Frauenheims. Wir sitzen auf abgenutzten, gelben Sofas mit Blumenbezug. Man sieht es den beiden an, dass sie gut miteinander auskommen, obwohl sie auf den ersten Blick sehr verschieden sind.
 
Diana trägt von Kopf bis Fuss einen grauen Trainingsanzug, dazu Stiefel, und ist leicht geschminkt. Ihre Stimme ist tief, sie spricht langsam und verständlich, als würde sie ein Buch vorlesen.

Karola ist 48. Sie hat kurzes, blondes Haar. Ihr Gesicht ist ungeschminkt und wirkt müde. Sie trägt Alltagskleider, die nach Zigaretten riechen. Sie setzt sich mir gegenüber, und man sieht es ihr an, dass sie im Leben gescheitert ist. Sie spricht schnell und viel.  

Diana fasst ihre Geschichte rasch zusammen: „Ich bin süchtig, grösstenteils von Alkohol, und manchmal konsumiere ich auch Medikamente und Drogen. Im November 2016 kam ich nach Dunaharaszti in die Entzugsklinik Hajnalcsillag (Morgenstern).” Von dort kam sie gleich ins Frauenheim der Heilsarmee, zusammen mit einer Freundin. Zuerst erwägte sie, in Untermiete zu wohnen, entschloss sich aber dann für das Heim.

„Früher war ich so stark unterdrückt, dass die anderthalb Jahre im Entzug nicht gereicht hätten. Auch seit ich hier bin, sind mir Dinge passiert, weswegen ich ein paar Tage nicht aus dem Bett aufstehen konnte. Hier bekomme ich aber in solchen Fällen Hilfe”, sagt sie.

Es fällt ihr schwer, über ihre Kindheit zu sprechen. „Sie hielten mich im Glauben, dass ich nichts wert bin. Ich suchte keine Freundschaften, hatte Angst vor den Menschen. Vor allem vor Männern, weil sie mich auch belästigten.” Sie war sehr jung, als sie den Vater ihres Kindes kennenlernte. Als der Mann ihr einmal drohte, sie umzubringen, floh sie. Später hatte sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann, der sie misshandelte. Mit ihm lebte sie fünf Jahre lang. „In dieser Zeit begann ich, Drogen und Medikamente zu konsumieren, und wurde Alkoholikerin. Das Trinken machte mich frei, ich wurde dadurch mutiger. Und ich spürte das Gewicht der Dinge und die Misshandlungen nicht“, erinnert sie sich. Ihre Familienmitglieder erkannten aber das Problem und entschieden, dass ein Entzug die beste Lösung sei. „So kam ich nach Dunaharaszti. Mein Kleinkind kam am 22. November zu Adoptiveltern, ich am 23. November in den Entzug.”

Ein Pastor und ein Psychologe helfen den Bewohnern, wieder auf die Beine zu kommen
Das Gebäude der Heilsarmee in Budapest beherbergt eine Tageswärmestätte, ein Rehabilitationsheim und ein Übergangsheim, dazu eine Suppenküche, ein Nachtasyl für die kalte Jahreszeit und das Heilsarmee-Korps Terézváros.

Das Übergangsheim, wo Frauen maximal zwei Jahre wohnen können, bietet 25 Plätzen an. Es gibt verschliessbare Schränke, eine gemeinsame Küche, eine Waschmaschine und Duschmöglichkeiten. Die Frauen werden von Sozialarbeitern betreut. Die Bewohnerinnen müssen für die Unterkunft zahlen und jeden Monat haben sie die Möglichkeit, einen Betrag von 5000 Forint (rund 20 Franken) auf die Seite zu legen, je nach Einkommen auch mehr. Sie müssen strenge Regeln einhalten, dafür bekommen sie jede Hilfe, die sie brauchen, um ein vollwertiges Leben zu leben und wieder auf die Beine zu kommen.

Karola bittet mich, ihre Ideentität nicht preiszugeben, weil ihr ehemaliger Lebenspartner, vor dem sie geflüchtet ist, sie finden könnte. Sie kam am 28. Dezember ins Nachtasyl, aber erst ein paar Tage vor unserem Gespräch wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen, wo sie eine Behandlung für Milzinfarkt und Arterienthrombose erhielt. Trotzdem fand sie eine Arbeitsstelle als Raumpflegerin in einer grossen Institution. Früher arbeitete sie mit Menschen in der Erwachsenenbildung und gab sogar eine eigene Zeitung heraus. Ihr Vater beschäftigte sich in der Zeit des Kommunismus mit Politik, und sie hatte eine schöne Kindheit, erzählt sie. Erst ungute Beziehungen stiessen sie in den Abgrund. Sie ist jetzt 48 Jahre alt.
 
„Ich habe siebeneinhalb Jahre gelitten. Ich liess es zu, dass volle Macht über mich verübt wurde, dass ich eine moderne Sklavin war. Ich durfte nicht ich selbst sein und durfte mit niemandem Kontakt haben. Zwei Jahre lang auch mit meinen eigenen Kindern nicht. Seelisch war ich völlig am Ende, weil mein Mann alles bestimmen wollte. Wenn er nüchtern war, trug er mich auf Händen, wenn er trank, schlug er mich. Einmal warf er mich zu Boden. Einen Monat später ging ich zum Arzt, und es stellte sich heraus, dass mein Steissbein gebrochen war. An dem Tag ging er nicht arbeiten. Er war schon zu Hause, als ich vom Arzt kam, und er schlug mich, weil er nicht glaubte, dass ich beim Arzt gewesen war“, erzählt sie.  

2013 schlug sie ihr Mann vor den Augen von Polizisten. Am nächsten Tag zeigte sie ihn an. Aber der Täter wurde nur zu einer Probezeit und zu einer Strafe von 100 000 Forint verurteilt – wofür er wieder Karola die Schuld gab. „Auch in meiner eigenen Wohnung musste ich mich vor ihm verstecken. Es kam vor, dass ich in der Garage oder im Keller schlafen musste. Es war herzzerreissend, als mich meine Kinder besuchten: Sie durften nicht ins Haus eintreten und ich konnte nicht zu ihnen hinausgehen.“ Sie sah sie nur durchs Kellerfenster und weinte. Eines Tages nutzte sie die Gelegenheit, dass ihr Mann trinken ging, und flüchtete. Sie hatte ihren Koffer schon vor einem Monat gepackt und auf den richtigen Augenblick gewartet, um zu entkommen. Das Heim der Heilsarmee in Budapest fand ihre Tochter aus erster Ehe. Ihr erster Mann, der Vater des Mädchens, hatte versucht, den Säugling sexuell zu missbrauchen, worauf Karola ihn sogleich verliess. Aus ihrer zweiten Ehe gingen zwei weitere Kinder hervor, aber der Mann betrog sie. Ihr dritter Mann wurde später gewalttätig. Sie war so naiv gewesen, ihn in ihre Wohnung aufznehmen und zu seinem Lebensunterhalt beizutragen. Dass sie jetzt bei der Heilsarmee lebt, wissen nur ihre Kinder. Der Täter hatte auch schon bei Freunden und bei ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter nach ihr gesucht.  

Trinken darf man nicht, aber wer keine Arbeit hat, erhält Lebensmittel
Karola wird jetzt ein neues juristisches Verfahren gegen den Täter einleiten. Sie hat von anderen Bewohnerinnen des Durchgangsheims die Nummer eines vertrauenswürdigen Rechtsanwalts sowie auch eines günstigen Optikers erhalten. Die Frauen stehen einander bei, indem sie hilfreiche Informationen austauschen. Jede hilft der anderen mit dem, was sie hat. „Die Sozialarbeiter kommen jeden Tag und fragen uns, wie es uns geht, ob wir etwas brauchen. Ist eine Frau komplett mittellos, dann bringen sie ihr Lebensmittel und sind ihr auch sonst in allem behilflich. Auch wenn eine Bewohnerin kein Geld hat, um die verschriebenen Medikamente zu kaufen, kann sie sich an die Sozialarbeiter wenden.“ „Und man darf keinen Alkohol trinken”, fügt Diana hinzu.

Es gibt Regeln, an die muss sich jede Bewohnerin halten: Verlässt sie das Haus, muss sie sich abmelden. Fremde Zimmer dürfen nicht betreten werden, und die Medikamente, welche der Psychiater verschreibt, müssen eingenommen werden. Die Tabletten werden von den Sozialarbeitern abgegeben, um Missbrauch zu vermeiden. So auch bei Karola, die blutverdünnende Medikamente einnehmen muss: Täglich gibt sie die hierfür verwendete Injektionsnadel wieder ab, damit sie ihr nicht von obdachlosen oder suchtkranken Personen entwendet wird, die Zugang zu den unteren Stockwerken des Hauses haben.

„Die Heilsarmee ist Teil der weltweiten christlichen Kirche, ihre Botschaft gründet auf der Bibel, ihr Dienst ist motiviert von der Liebe zu Gott. Ihr Auftrag ist es, das Evangelium von Jesus Christus zu predigen und menschliche Not zu lindern“, lautet das Leitbild der Heilsarmee. Trotzdem ist Religiosität keine Bedingung dafür, hier wohnen zu können.  

„Bis noch vor wenigen Jahren war ich sehr wütend auf Gott, weil er für die Menschen seinen einzigen Sohn geopfert hatte. Das war eine schwerwiegende Anschuldigung. Später kam ich dann an diesen sehr guten Ort. Wenn ich zurückdenke, merke ich: Gott ist schon immer bei mir gewesen”, erzählt Diana.

Auch Karola ist erst seit Kurzem gläubig. Sie erzählt, gleich zweimal in einer Situation gewesen zu sein, die ihr einen Grund gab zu glauben: Einmal hatte sie einige Minuten lang einen Herzstillstand, wurde aber wiederbelebt. Das zweite Mal begegnete ihr Jesus im Traum. „Mit Tibor, dem geistlichen Leiter der Institution und Heilsarmeeoffizier, spreche ich viel über meine Erlebnisse. Es ist mir klar, dass dies noch keine richtige Bekehrung war. Aber ich kenne den Weg. Wenn der Heilige Geist mich erfüllt und ich den grossen Frieden und die Liebe spüre, wird das der Augenblick sein, von dem ich sagen kann: Ich habe mich bekehrt. Doch immer mehr spüre ich Gottes Gegenwart, die mich umgibt, und das tut gut“, sagt sie.  

„Mit vom Wichtigsten ist, niemals über die Vergangenheit zu trauern. Es ist wichtig, alles hinter sich zu lassen, sich nach vorne auszurichten und sein Ziel anzustreben.” Diana greift diesen neuen Gedanken auf und hält dann inne. Man sieht ihr an, dass es ihr schwerfällt, über das zu sprechen, was folgt. „In der Rehabilitation in Dunaharaszti sind sehr viele rückfällig geworden, einige starben sogar. Die Sucht ist sehr hart. Ich will nicht rückfällig werden, aber ich sage niemals nie. Es reicht ja schon ein Schluck. Aber ich bereue nichts. Ich habe fast alle Gefühle und Situationen kennengelernt und bin trotzdem ein Mensch geblieben. Ich verachte niemanden, auch nicht jene, die im Strassengraben schlafen“, sagt sie. Diana arbeitet zurzeit als Raumpflegerin in einem grossen Dienstleistungsunternehmen. Es fällt ihr immer noch nicht leicht, ihre Angst vor Männern zu bezwingen. Dennoch kann sie heute auch mit ihren männlichen Kollegen über ihre Vergangenheit reden. „Die Leute können sich nicht vorstellen, wieviel ich früher trank“, sagt sie. Wenn sie darum gebeten wird, schafft sie es, selbst vor Schulkindern über ihre einstrige Abhängigkeit zu sprechen und auf ihre Fragen einzugehen.

„Viele, die mir zuhören, kommen selbst nicht zur Vernunft. Dennoch konnte ich schon eine Frau in die Rehabilitation nach Haraszti begleiten, und glücklicherweise blieb sie am Leben. Ich erzähle den Menschen über meine Abhängigkeit. Und auch darüber, wo ich früher gewohnt habe und wo ich heute wohne. Ich schäme mich nicht, das zu erzählen. Ich möchte aber auch niemandem etwas vormachen und sagen, es sei alles in bester Ordnung“, sagt sie.
 
Karola denkt, dass es ihr sehr geholfen habe, über die erlittene Gewalt zu sprechen – das musste sie zuerst lernen. „Nicht nur mir tut das gut, es hilft auch anderen misshandelte Frauen, die es dann schaffen auszubrechen, die Vergangenheit zu akzeptieren und darüber zu sprechen. Auf diese Weise können sie sehr, sehr viel Hilfe bekommen.”

 

 

Autor
Quelle: Atlatszo (01.03.2019) Übersetzung: Heilsarmee Ungarn

Publiziert am
8.5.2019