Geschichten von Schmerzen und Hoffnung

Geschichten von Schmerzen und Hoffnung

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Heilsarmee-Leutnantin Paula Mendes hat Weihnachten in einem brasilianischen Flüchtlingslager verbracht. Lesen Sie den ergreifenden Bericht.

Weihnachten ist für Flüchtlinge komplett anders. Sie finden sich in einem fremden Land und einer fremdes Kultur wieder. Heilsarmee-Leutnantin Paula Mendes reflektiert, wie Solidarität, Güte, Liebe und Empathie selbst in der Dunkelheit vorherrschen können. Dies ist eine wahre Geschichte für alle, die Augen haben zu sehen …

Es ist die alte Geschichte: Wir denken, dass wir lehren, und am Ende lernen wir selbst. Wir denken, dass wir helfen, und am Ende erfahren wir selbst Hilfe. Ich schloss mich einem humanitären Hilfswerk an und war am Ende selbst menschlicher. Im Folgenden meinen persönlichen Bericht darüber, was ich lernte, während ich venezolanischen Migranten in Boa Vista im brasilianischen Staat Roraima half.

1) Armut ist keine Entschuldigung für den Mangel an Grosszügigkeit
Gewisse humanitäre Werke geben uns die Gelegenheit, andere zu segnen. Aber meine Erfahrungen gehen weiter als das. Sie schliessen mit ein, Empfängerin von Grosszügigkeit seitens von Menschen geworden zu sein, die sich nicht rechtfertigen müssten, wenn sie beschliessen würden, nur zu empfangen. Ein Vater bringt ein Blatt Papier um dir zu helfen, einen Film zu schützen. Eine Mutter, die gerade Babykleider bekommen hat, geht zu ihrem Zimmer und kommt zurück mit anderen Kleidchen, die ihrem Kind nicht mehr passen, aber vielleicht einem anderen. Ein Kind sieht, dass die Flipflops seines Freundes kaputt sind und gibt ihm seine, damit er nicht barfuss durch die Strassen laufen muss. All diese Menschen sind Flüchtlinge und sind grosszügig. Sie verstehen, was viele von uns nicht tun: Grosszügigkeit, Freundlichkeit und Nächsteliebe haben nichts mit der finanziellen Situation zu tun. Jeder kann überall Liebe und Fürsorge leben.

2) Jede Geschichte hat mehr als eine Seite
Vieles haben wir über die Auswirkungen der Massenimmigration von Venezolaner auf die Ruhe und Beschaulichkeit der Stadt Boa Vista gehört. Mehr Gewalt, Prostitution, Übervölkerung an den Schulen und in den Gesundheitseinrichtungen. All dies ist wahr. Was wir aber nicht tun können ist, die Schuld für die Zunahme der Kriminalität auf ihren Schultern abzuladen. Viele Menschen, einschliesslich Brasilianern, erkennen eine gute Gelegenheit, sich die unsichere Lage zunutze zu machen. Die Liste der Gewalttaten bildet sich nicht nur aus Diebstählen und Schlägereien, sondern auch aus Erpressung, Ausbeutung und Fremdenhass sowie aus körperlicher und seelischer Gewalt. Viele Verbrechen werden nicht erkannt und auch nicht bestraft. Die Schuld für diese Welle der Gewalt einer einzigen Volksgruppe anzulasten, ist nur eine Seite der ganzen Geschichte.

3) Wir sind alle Einwanderer
So lautete der Gruss eines Priesters, als er zu seiner Rede an einem kürzlich stattgefundenen Symposium über Flüchtlinge anhob. Jeder, der den Ursprüngen seiner Familie auf die Spur geht, wird entdecken, dass irgendwo in ihrer Geschichte Immigration stattgefunden hat. Bevor man also über andere urteilt, die vom universellen Recht zu migrieren Gebrauch machen, braucht es die Selbsterkenntnis, dass wir alle gleich sind, nur in unterschiedlichen Zeiten und Migrationszyklen.

4) Niemand ist freiwillig Flüchtling
Klingt offensichtlich. Aber niemand, der alle Sinne beisammen hat, entscheidet sich, sein Land zu verlassen, Schutz zu suchen und sein Leben neu zu beginnen – eine neue Sprache, eine neue Kultur, alles zurückzulassend, die ganze Familie, die Lebensgeschichte, die Flagge. Flüchtling zu sein ist keine Wahl, sondern die Konsequenz von sozialem Versagen, von Krisen und Risiken. Es ist eine Überlebensstrategie. So wie der Venezolaner, den ich in Boa Vista auf der Strasse antraf, und der mir sagte: „Wissen Sie, ich träumte davon, Venezuela zu verlassen und zum Beispiel nach Spanien zu reisen. Aber niemals dachte ich daran, mein Land zu verlassen. Das habe ich niemals gewollt.“

5) Es besteht eine beschämende Dankbarkeit
Dies war bei vielen Menschen, die ich antraf, die sichtbare Haltung: Dankbarkeit, Respekt und gar Furcht angesichts der grossen Anstrengungen, die unternommen wurden, um sie zu empfangen. Vielleicht das beste Bild, das dies illustriert: wie venezolanische Flüchtlingskinder, mit einheimischen in einer kulturellen Feier vereint, mit beneidenswerter Inbrunst die brasilianische Landeshymne singen. Ein berührendes Bild mit einer tiefen Botschaft. Manchmal kann Dankbarkeit aber auch im Weg stehen. Vielen ist es nicht recht, sich über erlittene Ungerechtigkeiten zu beklagen, weil sie sich in ihrer Lage wertlos fühlen. Natürlich entmutigt es auch, wenn man Reaktionen erlebt wie diese: „Du bekommst etwas und beklagst dich auch noch darüber?“ Oder das ermüdende Etikett der „Undankbarkeit“. Wir müssen das Konzept der Menschenrechte überdenken, welches sich vom Konzept der sozialen Wohlfahrt unterscheidet.

6) Niemand ist besser als wir alle zusammen
In Boa Vista gibt es mindestens 25 Organisationen, die sich zum Wohl der Flüchtlinge aus Venezuela einsetzen. Jede einzelne mit ihren Dienstwegen, ihren Handlungsweisen, ihren Uniformen, ihren Regeln, ihren Teams. Von Italien, Norwegen, den USA oder Frankreich operierend. Bekannte und weniger bekannte Namen. Viele Menschen, viele Merkmale und vielleicht noch mehr Ausreden, warum jeder für sich arbeiten könnte. Aber das ist nicht der Fall. Das gemeinsame Ziel bringt sie dazu, zusammenzukommen. Warum sollte jeder für sich bleiben, wenn wir zusammenkommen und ein grosses Fest feiern können? Ein Geist der Kooperation zwischen den Organisationen, den Agenturen, dem Militär und den Freiwilligen ist spürbar. Er ist der Beweis dafür, dass es nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist, für ein grösseres Gut zusammenzustehen.

7) Freundschaften können an unwirtlichen Orten entstehen
Normalerweise suchen wir Freunde unter unseresgleichen. Aber was ist mit einer Freundschaft zwischen einer 30-Jährigen und einer Frau in ihren 70ern? Oder mit einem vierjährigen Mädchen? Beides ist möglich. Die Dame wurde eine wertvolle Partnerin für Ausflüge, Kaffeerunden, Austausch von Rezepten, Fahrten zur Kirche, Reisetipps und Shopping. Das kleine Mädchen war eine grossartige Gesellschaft zum Frühstück und am frühen Nachmittag. Ein willkommener Gast, der in unser Haus kam, während sich ihre Eltern, Missionare, von ihrer Arbeit mit den Einheimischen ausruhten. Wir verabschiedeten uns, indem wir uns umarmten und Geschenke austauschten, und sind uns sicher, dass Freundschaft an den unwahrscheinlichsten Orten entstehen kann.

8) Nicht immer ist das, was wir geben, auch das, was die Menschen brauchen
An ein grundleges und wohlbekanntes Prinzip möchte ich an dieser Stelle erinnern: Es ist gut, wenn wir Kleider, Schuhe, Bibeln oder Lebensmittel an Menschen verteilen. Noch besser ist es aber, sie zu fragen, was sie überhaupt brauchen, bevor man etwas gibt, gemäss dem Bibelvers „….je nachdem es einer nötig hatte“ (Apostelgeschichte 2,45) - und nicht gemäss unserer subjektiven Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse. Wir könnten überrascht sein, was wir erfahren, wenn wir sie fragen, und darüber hinaus bieten wir ihnen nicht nur unsere Hilfe, sondern auch die Würde, auswählen zu können. „Eine Brille für meine Tochter“, „ins Internet gehen“, „Kekse essen“, „ich will nichts für mich selbst, aber ich habe einen Freund, der Hilfe braucht“ sind einige der Antworten, die wir bekamen, als wir Gelegenheit hatten, mehr als das Offensichtliche zu tun.

9) Anbetung geschieht nicht nur dann, wenn wir beten oder einen Gottesdienst besuchen
Eines Nachmittags wurden wir von einer Familie aus einem der Zelte zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Eine einfache Party, aber sehr herzlich, mit venezolanischer Musik und einer guten Synergie zwischen allen, die dabei waren. Am Ende, als der Moment kam, um Happy Birthday zu singen, fing eine Frau an, für das Geburtstagskind ein wunderschönes Segenslied anzustimmen. Sofort sangen alle mit. In diesem feierlichen Moment verstand ich, dass Gottesdienste oft als Partys daherkommen. Sie beleben, bringen Freude, Gemeinschaft und Dankbarkeit. Ich denke das ist der Grund, warum Jesus so gerne feierte!

10) Es ist möglich, auch in schwierigen Situationen zu lächeln
Wie die Grosszügigkeit auch, so kennt auch das Lächeln keine Einschränkungen. Und für solche, die, wie ich, schnell die Motivation zum Lächeln verlieren, wenn sie Kopfweh haben oder einer irritierenden Person begegnen, ist es demütigend zu erkennen, dass es unter den Flüchtlingen so viele hat, die Schreckliches erlebt haben und immer noch lächeln. Wie der junger Mann, ein Verkäufer aus Venezuela, der sich nun um Autos kümmert und auf der Strasse schläft, um Geld zu sparen und es seinem Bruder zu schicken, der Aids im fortgeschrittenen Stadium hat. Oder das Mädchen, das ihre beiden Töchter in Venezuela zurückgelassen hat und alleine kam, um ihn Brasilien ihr Glück zu versuchen. Geschichten, die unter Schmerzen erzählt werden, aber auch mit einem Lächeln und mit der Hoffnung, nicht aufzugeben.

11)  Soldaten können sanftmütig sein und religiöse Menschen schroff
Die Gestalt eines Angehörigen des Militärs kann manchmal einschüchternd oder gar bedrohlich wirken. Dennoch sorgen die Soldaten im Lager wirklich für Ordnung. Was viele nicht wissen ist, dass es innerhalb der Lager keine bewaffneten Soldaten gibt. Nur in Notfällen dringt eine bewaffnete Gruppe ein, falls notwendig. Was wir gesehen haben und bezeugen können ist, dass wir viel Liebe und Menschlichkeit hinter den Uniformen entdeckt haben. Die Soldaten machen Selfies mit den Kindern, fragen sie ihre Hausaufgaben ab, kitzeln sie oder leihen ihnen Stethoskope aus, damit sie den Herzschlag hören können. Sie montieren Volleyballnetze, regeln elektrische Pannen, stellen Zementstrukturen auf, damit gekocht werden kann. Sie putzen, organisieren, reparieren Fahrräder. Die Uniform definiert niemanden – nur das Herz tut es. Die einfachste Art, Regeln durchzusetzen, mag mit Drohungen und Gewehren sein. Aber diese Soldaten zeigten eine bessere Art auf. Sie schufen sich einen Respekt, der über die körperliche Kraft hinausgeht.

12) Das Chaos kann Schönheit nicht verhindern
Boa Vista ist eine Stadt, die immer noch eine Krise durchlebt. Dennoch sind die Parks sauber und grün, und an Weihnachten ist die Stadt so wundervoll beleuchtet und geschmückt, wie ich es noch selten gesehen habe. Auch im Lager gibt es Weihnachtsbäume, Wandbilder und Hintergrundmusik – Dekorationen, welche die Flüchtlinge selber erstellen, und selbst Blumen. Gibt es hier Chaos? Zweifellos. Aber es gibt auch Schönheit – weil das eine das andere nicht annulliert.

Autor
Leutnantin Paula Mendes (Quelle: Salvation Army International)

Publiziert am
28.12.2018