Nächstenliebe mit Kamm und Schere

Nächstenliebe mit Kamm und Schere

© Barbie Jarrett Vaughn flickr.com / Lizenzfrei

Coiffeuse Stefanie Eggenschwiler schneidet 18 Bewohnerinnen und Bewohnern des Heilsarmee-Wohnheims Winterthur gratis die Haare.

«Bei einem Coiffeur war ich schon fünf Jahre nicht mehr», sagt die junge Frau. Jetzt sitzt sie im Stuhl von Stefanie Eggenschwiler, bequem zurückgelehnt, und wartet, bis das Wasserstoffperoxid wirkt. «Ich wollte ein Adventsgeschenk machen, eine gute Tat», sagt Eggenschwiler. «Und was ich kann, ist Haare schneiden.» Seit gut zwei Jahren führt die 37-Jährige den Salon Glamour&Style gegenüber der Alten Kaserne, ein hoher Raum ganz in weiss und silber. «Es geht uns wirklich gut», sagt sie. «Aber nicht alle Leute haben so viel Glück.»

 

Im Andenken an den Onkel
Die Idee, gratis Haare zu schneiden, kam Stefanie Eggenschwiler, als sie an ihren Onkel dachte. Vor etwa 20 Jahren war dieser in einer ähnlichen Situation wie die Bewohner, lebte erst auf der Strasse, dann in einem Wohnheim. Auch bei der Heilsarmee in Winterthur.

Als Eggenschwiler dort anrief und ihre Idee schilderte, zögerte die Betreuungsleiterin Irene Achermann nicht lange und sagte zu. Von den knapp 40 Bewohnenden meldete sich die Hälfte an, je neun Frauen und Männer. «Wer bei uns lebt, kann sich einen Coiffeurbesuch meist nicht leisten», sagt Achermann. «Besonders die Frauen nicht.» Viele schneiden sich die Haare selbst.

Auch Marion. Die Beiständin sei knausrig, was Coiffeurbesuche angeht, sagt sie. Umso mehr geniesst sie das unerwartete Geschenk. Fast zwei Stunden dauert die Behandlung, färben, schneiden, föhnen. Über 200 Franken würde das normalerweise kosten. «Ich wollte ein Adventsgeschenk machen, eine gute Tat – und was ich kann, ist Haare schneiden.»

 

Der 58-jährige Sascha tunkt zufrieden einen Zimtstern in den offerierten Kaffee. Er war ein schneller Kunde mit seiner Kurzhaarfrisur, und auch im Wohnheim sei er nur kurz zu Gast, sagt er. In wenigen Wochen dürfe er zurück zur Frau in die gemeinsame Wohnung. Simon (Name geändert) dagegen hat seine Bleibe vor drei Monaten verloren.

«Ich war in Staatsferien», sagt er und lacht gequält; eine Haftstrafe. Mit blonden Mèches und kurzen Haaren wirkt der tätowierte 34-Jährige deutlich aufgefrischt als er vom Stuhl aufsteht - bereit für die Wohnungs- und Jobsuche. «Ein guter Haarschnitt bringt Selbstvertrauen», sagt Stefanie Eggenschwiler. «Und wenn man wenig Geld hat, ist es auch einfach ein Erlebnis, wenn man sich einmal etwas nur für sich aussuchen kann.» Behutsam wäscht sie Marion das Bleichmittel aus den Haaren.

Noch gut eine Stunde, dann wird die junge Frau den Salon verwandelt verlassen. Und Stefanie Eggenschwiler und ihre zwei Mitarbeiter schneiden weiter. Bis halb sieben abends sind sie ausgebucht.

Autor
Quelle: Der Landbote (04.12.2019)

Publiziert am
5.12.2019