Warum Yannick Imboden zur Heilsarmee ging

Warum Yannick Imboden zur Heilsarmee ging

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Kein Sex vor der Ehe, kein Alkohol, keine Drogen. Stattdessen Suppe, Seife, Seelenheil. Was führt einen Teenager zur Topfkollekte?

Zu dieser Jahreszeit im Advent könnte man ihn in einer belebten Flaniermeile an treffen, wenn er an einer Topfkollekte steht, Lieder singt und mit Passanten über Gott spricht. Eine auffällig dunkle Uniform mit Krawatte und Schirmmütze, das tragen die meisten seiner Organisation - er habe aber keine, sagt Yannick Imboden. «Die Schuhe anlassen», fordert er, bevor er mich in die Räumlichkeiten des Korps Winterthur bittet, eine von 55 Heilsarmee-Kirchgemeinden in der Schweiz.

Hier, in einer renovierten Jugendstilvilla im Herzen Winterthurs, treffen sich 130 Mitglieder der protestantisch geprägten Freikirche. 1865 wurde sie in England gegründet, weil der erste «General» dem allgegenwärtigen Elend mit «Suppe, Seife und Seelenheil» entgegenwirken wollte. Heute ist der oberste Heilsarmist ein Kanadier. Darunter leiten Offiziere die Länder, Regionen und Korps. Offizielle Mitglieder nennen sich Soldaten oder Salutisten, alle übrigen Mitglieder gehören dem «engeren Freundeskreis» an, so auch der 24-jährige Imboden, der sogleich zum Du wechselt.

Der Korps-Jugendarbeiter trägt Jeans, Kapuzenpulli und flauschige Finken. Er sei für die Teenies das «Mädchen für alles», der seelisch-geistliche Helfer für alle Lebenslagen. Der studierte Filmproduzent führt in den Hauptsaal, in dem etwa hundert Personen jeweils den Sonntagsgottesdienst besuchen. Eine Wandverbindung führt direkt in die Küche. «'Tischlein deck dich' machen wir hier», erklärt Yannick die Abgabestelle, wo Bedürftigen warmes Essen verteilt wird.

Es ist ein Teil der Umsetzung des Auftrags, der das «Lindern menschlicher Not» und die «Predigt des Evangeliums von Jesus Christus» einschliesst. Er habe sich bewusst für dieses Leben entschieden, sagt er. «Für den christlichen Glauben», wie er anfügt. Und als Mitglied der Heilsarmee sei er bereit, auf Alkohol, Drogen und Sex vor der Ehe zu verzichten.

 

Riesengeschenk Gottes
Yannick drückt im Lift die Nummer eins und führt mich in ein Zimmer, in dem unter der Woche ein «Babysong-Angebot» - eine Mutter/Vater-Kind-Singstunde - stattfindet.

«Viele unserer Mitglieder sind mit der Heilsarmee aufgewachsen», sagt er. So wie er selber. Yannicks Eltern sind beide Offiziere. Schon als Bube, erinnert er sich, habe er vieles mitbekommen und sich für den Glauben interessiert. Dann, als Teenager, fügt er an, hätten ihn Zweifel umgetrieben.

«Plötzlich habe ich alles hinterfragt: Wieso machen das meine Eltern? Will ich das auch? Wieso glaube ich, was ich glaube?», erzählt er. Vielen Gleichaltrigen gehe es heute gleich. Wir stehen mittlerweile im Jugendraum im Untergeschoss. Hierher, in den wohnlich eingerichteten Raum mit zwei Sofas, kommen am Wochenende oft die Dreizehn- bis Sechzehnjährigen. Yannick will, dass sie sich wohl fühlen.

«Der familiäre Rahmen ist sehr wichtig», sagt er. Im Eck steht eine Bar ohne alkoholische Getränke. Yannick erinnert sich, wie ihn seine Schulfreunde im Gymnasium nicht verstanden. Warum kein Alkohol, keine Drogen, hätten viele gefragt. Oder wieso er sein erstes Mal noch nicht gehabt habe.

Gespräche mit Erwachsenen hätten ihm geholfen - ein «Mentoring». Wie auch die Bibel, die ihm den richtigen Weg gezeigt habe, bis für ihn mit sechzehn klar war, dass der Glaube den Sinn seines Lebens abdecke. Sein Glück, so sagt es Yannick, habe er nie von etwas abhängig machen wollen - schon gar nicht von Alkohol. Mit Jesus unterwegs zu sein, habe ihn persönlich erfüllt: «Gott wurde für mich real.» Seine Klassenkollegen seien dazumal an einem ganz anderen Punkt gewesen, erinnert er sich.

Seine Entscheidung für Gott habe sich aber gelohnt, wenn er zurückblicke. Auch die Enthaltsamkeit. Yannick zeigt seinen Ehering. Seine Frau, die ebenfalls bei der Heilsarmee ist, habe wie er verzichtet. Das habe die Vorfreude verstärkt, sagt er.

«Die Sexualität ist ein Riesengeschenk Gottes» und sei die «persönlichste Ebene» in einer Partnerschaft. Dass man sich davor erst auf das Zwischenmenschliche konzentriert, habe er positiv erlebt.

 

«Diese Nächstenliebe, stell dir vor»
Eine Sekte, wie zuweilen vermutet wird, sei die Heilsarmee nicht, sagt Yannick bestimmt, während wir in seinem Büro stehen. Diejenigen, die das sagten, meint er, wüssten gar nicht, was eine Sekte ist. Bei ihrer Bibellesung werde nichts weggenommen und nichts hinzugefügt.

«Die Bibel wird als fertig angesehen», was bei Sekten anders sei. Auch sei niemand verpflichtet, mitzumachen. Austritte seien jederzeit möglich, sagt er. «Obwohl», fügt er an, «das kommt selten vor, unsere Mitglieder bleiben meist ein Leben lang.» Kontroversen und falsche Anschuldigungen erlebe er aber nicht wirklich, sagt Yannick.

Ihn freue vielmehr, dass die Heilsarmee als Sozialhilfs- und Kirchenwerk gesellschaftlich verankert sei. «Es gehört heute dazu.» Ob er eine Lieblingsbibelstelle habe, wollen wir zum Schluss wissen. «Definitiv», sagt Yannick wie aus der Pistole geschossen. «Johannes 3,16», die Stelle sogleich zitierend: «Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hergab» - «Stell dir das vor, diese Nächstenliebe», sagt er und schlüpft aus seinen Stofffinken.

Darauf schnürt er seine Sneakers und meint: «Jetzt habe ich Lust auf Chicken-Fastfood.»

 

Autor
Quelle: Weltwoche (19.12.2019)

Publiziert am
19.12.2019