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Jesus Christus praktisch erleben: Jakob Wampfler, Betreuer im Passantenheim Thun, erzählt aus seinem Arbeitsalltag (7950 Zeichen)

Seit zwei Jahren habe ich das Privileg, im Passantenheim der Heilsarmee in Thun als Betreuer arbeiten zu dürfen. Passantenheim ist ein alter Begriff, heute müsste es eher heissen Herberge, Zufluchtsort oder auch eine Art Wohnheim. Was jedoch in den vergangenen 100 Jahren gleich geblieben ist, sind die Nöte und Probleme unserer Bewohner und Besucher.

In unseren Einer-, Zweier- und Viererzimmern wohnen Frauen und Männer aller Altersklassen und verschiedendster Herkünfte, die allermeisten jedoch sind Schweizer. Allen gemeinsam ist, dass sie eine sehr schwere Bürde zu tragen haben, dass das Leben sie arg gebeutelt hat, dass sehr viel schiefgelaufen ist, zum Teil eigen-, oft aber fremdverschuldet.

Gott und den Menschen dienen
Wir vom Mitarbeiterteam haben in unserem Haus die Möglichkeit, Gott zu dienen und auch die Devise des Heilsarmeegründers William Booth praktisch umzusetzen: „Suppe, Seife, Seelenheil.“ Nachdem ich selber nach einem halben Leben in Sucht und Verzweiflung durch Jesus Christus frei und gesund wurde, darf ich nun meine Erkenntnisse und Erfahrungen in meine Arbeit einfliessen lassen. Ich bin so richtig „an der Front“.

Nebst den Menschen, die Tage, Wochen oder Monate bei uns wohnen, gibt es täglich auch spontane Besucher. Sie alle suchen etwas. Zum Beispiel, dass jemand Zeit und ein offenes Ohr für ein aufmerksames Gespräch hat. Oder eine Tasse heissen Kaffee, ein Stück Brot oder Kuchen, eine Stunde Schlaf auf der Couch in der Stube. All diese Dinge sind wichtig, all diese Dinge sind Gottesdienst: Dienst an Gott, Dienst am Menschen.

Kostbare Menschen
Jesus Christus gibt ausnahmslos jedem Menschen auf dieser Erde seine Würde. Diese Würde gilt es zu achten. Oft ist es unsere Aufgabe, unseren Bewohnern und Besuchern diese Würde zurückzugeben und neu bewusst zu machen. Durch all die Jahre der Verzweiflung, Sucht, Ablehnung und des aussichtslosen Kampfes ging vieles in ihnen kaputt, insbesondere das Selbstwertgefühl. Hier gilt es, Millimeterabeit zu vollbringen, die Menschen fühlen zu lassen, dass sie nicht Clochards oder Fixer oder Alkoholiker oder Magersüchtige sind, sondern Menschen.

Als ich einmal einer jungen Frau ein Sandwich in die Hand drückte, starrte sie mich ungläubig an und sagte leise: „Was, das schenkst du mir, ich bin doch nur ein Drecksjunkie.“ Da sagte ich: „Nein, das bist du nicht. Du bist eine junge, sehr wertvolle und kostbare Frau. Jesus hat dich sehr, sehr lieb. Er möchte dich von allen Drogen befreien und dir Gesundheit und ein neues Leben schenken."

Für andere Menschen glauben
Der Glaube versetzt Berge und ist eine gewaltige Kraft. Weil Jesus an dich und an mich glaubt, wächst unser Glaube auch immerfort. Und es ist ein Geschenk, dass wir für-glauben dürfen. So wie es die Fürbitte gibt (für andere beten), gibt es auch den Fürglauben (für andere glauben). Im Passantenheim kommen viele Menschen, die können oder wollen gar nichts glauben. Oder sie können gar nicht spüren, dass sie etwas glauben. Genau für diese Menschen darf ich fürglauben, stellvertretend glauben. Das nimmt Jesus sehr ernst. Da beginnt er, im Inneren dieses Menschen zu handeln.

Der Glaube gibt Kraft. Und meine Arbeit erfordert ziemlich viel Kraft. Zum einen körperliche Kraft, denn ich wasche, koche, putze und trage oft schwere Dinge herum. Aber durch den Glauben an Jesus erhalte ich ungeahnte Kräfte: Ich kann über mich hinauswachsen. Und immer wieder geschehen übernatürliche Dinge.

Ein Platz in meinem Herzen
Stefano – verletzt, kaputt, krank an Leib und Seele – kommt zu uns. In den ersten Tagen hat er Angst vor allem, sogar vor der Katze. Ich spüre, dass es wichtig ist, ihm so oft wie möglich in die Augen zu blicken, offen und ehrlich. Denn auch die Augen sind erloschen. Stefano konsumiert alles mögliche, hat seine Eltern auf grausame Art verloren, hat nichts anderes mehr als die Sehnsucht nach dem Tod.

Stefano erobert einen massiven Platz in meinem Herzen. Ich bete viel für ihn, segne ihn, tue ihm Gutes. Unvergessen bleibt mir, wie ich ihn zum ersten Mal in die Arme nehme, obwohl er nicht nach Kölnischwasser duftet. Tränen fliessen, er begreift nicht, dass er wichtig, wertvoll, ja sogar kostbar ist. Aber langsam, sehr langsam, beginnt Eis zu schmelzen. Irgendwann, nach Monaten, führen wir in der Waschküche ein Gespräch über die Vergebung und das Erbarmen Jesu. Stefano sagt: „Ja, Jakob, du selber hast vielleicht 20 000 Sünden begangen, das hat dir Jesus offenbar vergeben. Aber weisst du, ich habe an die 80 000 gesündigt. So schrecklich viel kann Jesus sicher nicht vergeben.“ Ich schaue Stefano tief in die Augen und sage: „O doch, lieber Stefano. Wenn du 80 000 Sünden begangen hast, dann hat dich Jesus also viermal so lieb wie mich mit 20 000 Sünden. Dann vergibt er dir viermal so viel wie mir. Das sagt er klar in seinem Wort.“ Stefano denkt lange darüber nach und sagt dann leiste: „Wenn du, Jakob, das sagst, dann glaube ich es.“ „Ja“, sage ich, „du darfst das von ganzem Herzen glauben, Stefano.“

Vertrauen, durch alles hindurch
Der Glaube befähigt mich, bei meiner Arbeit nicht zu verzweifeln, auch wenn ich viele sehr schwere Dinge erleben muss. Wenn es Enttäuschungen und Rückschläge gibt. Wenn ich das Gefühl habe, es bringe doch alles nichts. Dann sagt die leise Stimme in mir: „Glaubst du mir oder glaubst du mir nicht? Ich habe dir niemals nur Zuckerguss versprochen. Aber ich hab dir klar gesagt, dass du mir vertrauen kannst, durch alle Nöte und Unbegreiflichkeiten hindurch. Vertraue mir, glaube mir.“

Glaube an den himmlischen, gütigen, barmherzigen, liebenden Vater. Glaube an den Sohn Jesus Christus, welcher für unsere Sünden ans Kreuz ging und mit seinem Blut die Vergebung erkaufte. Glaube an den Heiligen Geist, welcher ständig in uns lebt, uns erfrischt, uns befähigt, uns Flügel verleiht, uns Kraft, Hoffnung und Zuversicht gibt.

Glaube daran, dass bei Gott nichts unmöglich ist, dass es keine Grenzen gibt für Jesu Macht, dass kein einziger Mensch bei ihm abgeschrieben ist. Glaube ist keine magische Formel, sondern die Folge dessen, was ich mit Gott erlebe, wenn ich mich auf ihn einlasse und immer mehr erkennen darf: Das hat ja Hand und Fuss. Gott nimmt mich absolut ernst, ich bin ihm sogar wichtig!

Ein ehrliches Flehen
Ueli – schwer suchtkrank von diversen Substanzen – ist jetzt auf Methadon und trinkt manchmal auch noch ein Bier dazu. Auch er ist tief in meinem Herzen verankert. Durch den sehr langen und intensiven Konsum diverser Substanzen wurde sein Gehirn geschädigt. In seinem Denken und Reden äussert sich dies wie eine fortgeschrittene Demenz. Einmal sagte er zu mir: „Weisst du, Jakob, jeden Abend sitze ich auf meinen Bettrand und bete: Lieber Gott, bitte hilf mir, mit dem Trinken aufzuhören. Aber ich kann ja gar nicht.“ Ich sagte ihm: „Ueli, das finde ich sehr toll! Bete dieses Gebet weiter jeden Abend, ich helfe dir auch beten.“ Und zu Jesus sage ich: „Gäll Jesus, auch wenn Ueli nicht mit dem Trinken aufhören kann, bis er die Augen schliesst, so bist du doch voller Erbarmen, dass du ihn zu dir nimmst. Du siehst ja sein ehrliches Flehen und seine Sehnsucht.“

Jesus hat dich grenzenlos lieb
Hoffentlich konnte ich dir mit meinen Zeilen Mut machen, glauben zu können. Selbst wenn du nicht suchtkrank bist oder im Passantenheim wohnst: Gott will auch dir begegnen, Jesus will auch dir vergeben, Jesus hat dich grenzenlos lieb. Er heilt alle Wunden, er schafft Neues, und er glaubt noch an dich, wenn sonst niemand mehr an dich glaubt. Und er will dich gebrauchen, er will dich segnen und zum Segen setzen. Er will dir Menschen zeigen, die gerade dich nötig haben. Passantenheim ist überall: am Arbeitsplatz, im Bus, im Sportklub, im Einkaufszentrum. Du bist gefragt, du bist wichtig, auf dich kommt es an, du bist begabt, du bist kostbar.

Gott segne dich, Gott brauche dich, Gott fülle dich mit Glauben, Freude und Zuversicht.

Autor
Jakob Wampfler

Publiziert am
25.4.2019