Geschützt, bis die Krise vorbei ist

Geschützt, bis die Krise vorbei ist

© Heilsarmee Schweiz / Ruben Ung / Limitierte Rechte

Im Pfadiheim Aare stellt die Heilsarmee neue Schlafplätze für Obdachlose zur Verfügung - Interview mit Kurt Hanhart, Projektleiter.

Hanhart ist Leiter des Passantenheims der Heilsarmee in Thun und verantwortet das Konzept, die Vorbereitungen und den Betrieb im Pfadiheim. Er berichtet über die belastende Situation und das Durchsetzen von Hygienevorschriften, aber auch über leuchtende Augen und erwachende Solidarität.

Kurt Hanhart, bestimmt haben Sie zurzeit alle Hände voll zu tun…
Kurt Hanhart: Die Vorbereitungen war in der Tat sehr aufwändig und die erste Betriebswoche sehr hektisch. Dies umso mehr, als von unserem Personal zwei Mitarbeitende wegen Krankheit und Isolation ausgefallen sind. Wir sind deshalb sehr dankbar, dass uns das Korps Thun bei normalem Tagesablauf im Passantenheim behilflich war. Jetzt ist alles aufgegleist und wir sehen etwas ruhigeren Zeiten entgegen.

Warum wurde der Satellit im Pfadiheim notwendig?
In der ursprünglichen Belegung des Passantenheims konnte die Abstandsregelung des BAG nicht eingehalten werden – wir hatten ja zum Teil Vierbettzimmer. Es stellte sich die Frage: Wohin mit den Bewohnern? Einige Leute konnten wir entlassen; sie kamen bei Freunden unter, und jemand konnte sogar in eine eigene Wohnung ziehen. Zusammen mit der Abteilung Soziales der Stadt Thun und der Wohnhilfe Thun überlegten wir, was dann zu tun war. Schliesslich kam die Idee vom Pfadiheim Aare in Steffisburg auf. Diese ist für eine solche Nutzung geradezu ideal. Es verfügt über zahlreiche Betten und abtrennbare Räume, sodass wir 18 neue Plätze schaffen konnten. Die Heilsarmee hat nun den Auftrag, die neue Notschlafstelle autonom zu organisieren und zu betreiben. Dazu konnten wir aus 18 Bewerbenden freiwillige Helferinnen und Helfer der Stiftung Heilsarmee Schweiz gewinnen, die in Früh-, Spät- und Nachtschichten arbeiten. Vier aussenstehende Personen durfte ich zusätzlich ein temporärer Arbeitsvertrag ausstellen

Sind die neuen Plätze bereits belegt? Was für Personen werden aufgenommen?
Von den 18 Plätzen ist nach nur einer Woche die Hälfte bereits belegt: einerseits durch bestehende Bewohner aus dem Passantenheim, andererseits aus Personen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind und die uns der Sozialdienst zuweist. Dabei handelt es sich um gesunde Personen, die getestet wurden und über eine entsprechende Arztbestätigung verfügen. Vier Plätze sind speziell für Frauen vorgesehen.

Wie verlief der Umzug der bestehenden Bewohner?
Das war zu Beginn gar nicht so einfach für sie. Doch als wir ihnen erklärten, warum das erforderlich ist, reagieren sie mit Verständnis und waren kooperativ. Die verbleibenden Bewohner verfügen nun über je ein Einzelzimmer, sodass der Abstand gewährleistet ist.

Wie wurden im Passantenheim die Hygienevorschriften aufgenommen?
Zu Beginn war die Einhaltung der hygienischen Vorschriften eine Illusion. Ich heftete die Empfehlungen des BAG ans Anschlagebrett, doch niemand nahm sie zur Kenntnis. Daraufhin legte ich jedem ein Infoblatt ins Zimmer, fertigte grosse, laminierte Plakate an und gab den Bewohnern den Auftrag, sie zu studieren. Wir stellten Reinigungs- und Desinfektionsmittel sowie auch Papiertücher zum Trocknen auf und kontrollierten auch, ob die Hände gewaschen wurden. Erst dann begann es mit der Einhaltung der Hygienevorschriften zu klappen. Wir wiesen die Bewohner auch darauf hin, dass, sollte sich jemand anstecken, alle in Quarantäne gestellt werden müssten. Inzwischen ist es so, dass sie selber einander kontrollieren, ob sie die Hände waschen.

Gelten im Passantenheim jetzt andere Regeln als vor Ausbruch des Coronavirus?
Im Gegensatz zu früher sind nun die Zimmer den ganzen Tag geöffnet: Die Bewohner sollen lieber im Zimmer bleiben, als nach draussen zu gehen und sich anzustecken. Die Eingangstüre wird um 21 Uhr geschlossen und es ist kein Besuch gestattet. Auf diese Weise sind sie geschützt.

Wie verläuft der Betrieb im Pfadiheim?
Der Betrieb funktioniert ganz ähnlich. Eine einzige Umstellung für die Bewohner ist, dass in Schlafsäcken geschlafen wird. Dank einem Aufruf und der Solidarität im ganzen Berner Oberland, durften wir über 40 Schlafsäcke für obdachlose Menschen als Spende dankend entgegennehmen. Das Heim ist eingezäunt und wird um 22 Uhr geschlossen. Ausserdem ist es weit weg von der Stadt, bis ins Zentrum ist es eine halbe Stunde zu Fuss – das lohnt sich nicht, die Leute bleiben lieber hier und sind geschützt.

Was machen sie den ganzen Tag?
Es gibt einige Arbeiten, die sie tun können, zum Beispiel Holz sägen und die Feuerstelle für das Grillieren herrichten. Auch sind sie damit beschäftigt zu lauben sowie das Gelände und die Terrasse zu reinigen. Das Pfadiheim verfügt über einen grossen Aufenthaltsraum, einen Essraum, eine Küche und sanitäre Anlagen. Die Bewohnenden helfen mit, diese Räume zu reinigen. Man hat das Gefühl, dass sie das gerne machen. Einer von ihnen bekam ganz strahlende Augen und sagte, es sei für ihn wie in früheren Zeiten. Er sei im Raum Thun aufgewachsen, kenne das Pfadiheim aus seiner Kindheit und habe eine Riesenfreude, jetzt hier zu sein.

Wird das Essen vom Passantenheim gebracht?
Nein, unsere Küche ist aus Hygienegründen geschlossen. Ich suchte nach Möglichkeiten, um für die Obdachlosen warmes Essen zu erhalten.  Ich kontaktierte Hansruedi Urech und sein Team aus der der Gassenküche Thun, die ja jetzt geschlossen ist. Sie kochen nun für uns. Die Mahlzeiten werden an beide Stationen am Montag, Mittwoch und Freitag durch Freiwillige vom Korps Thun und vom Verein Nächstenliebe angeliefert. Somit gibt es dreimal pro Woche ein warmes Abendessen. Es gibt täglich ein Frühstück, und von einem Laden in der Nähe können sich die Bewohner mit dem restlichen Bedarf eindecken.

Was denken Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, über die aktuelle Krise?
Die meisten nahmen zu Beginn die Krankheit gar nicht ernst und dachten, es sei eine normale Grippe. Vor allem die älteren beginnen nachzudenken und realisieren, dass dies eine Situation ist, die auch ihnen gefährlich werden könnte. Die Risikopatienten isolieren sich. An den Szenenplätzen sieht man niemanden mehr, viele laufen alleine oder mit dem nötigen Abstand zueinander. Es hat ein Umdenken stattgefunden. Im Passantenheim beobachte ich, dass unter den Bewohnern eine gewisse Solidarität entstanden ist: Sie tragen zueinander Sorge, was zuvor nicht der Fall war. Sie äussern nun, dass sie sich hier wohl fühlen, und geben sich Mühe, damit das so bleibt.

Wie lange werden Sie im Pfadiheim bleiben?
Der Verein Pfadiheim Aare ist sehr kulant und kam uns mit einem sehr guten Mietpreis entgegen. Wir können so lange bleiben, wie es nötig ist und bis diese Krise ausgestanden ist.

 

 

 

Autor
Interview: Livia Hofer

Publiziert am
8.4.2020