Das Bettelverbot verschärft die Situation der Roma
Das Bettelverbot verschärft die Situation der Roma
Was ist aus den Roma nach dem Bettelverbot geworden, das in Lausanne am 1. November 2018 in Kraft trat? Die Heilsarmee informiert.
Seitdem in Lausanne am 1. November 2018 das Bettelverbot in Kraft trat, hat sich die Situation der Roma stark verändert. Während jene Familien, die Arbeit haben, geblieben sind, mussten die meisten nach Rumänien, Frankreich oder Deutschland ziehen.
„Von 2014 bis 2018 konnten in der Region Lausanne 18 Kinder im Rahmen des Programms Recht auf Schule eine Schule besuchen und ihre Zukunft gestalten“, erklärt Anne-Catherine Reymond, Präsidentin von Saint’Egidio Lausanne. „Das Inkrafttreten des Bettelverbots setzte somit dem Programm ein Ende. Nach unserem Wissen konnte in den Familien, die nach Frankreich gingen, kein Kind vor Ort eingeschult werden. Gleiches gilt für die wenigen Familien, die sich für Deutschland oder Rumänien entschieden haben."
Zersplitterung von Familien und Verarmung
Statt gegen unsichere Verhältnisse zu kämpfen, hat das Bettelverbot die Situation dieser bereits geschwächten Menschen nur verschlechtert. "Die Roma wollen arbeiten", sagt Diane Barraud, Pastorin bei Support Point. "Einige verkauften Blumen auf der Strasse oder versuchten, andere Lösungen zu finden. Dann gab die Handelspolizei dazu keine Erlaubnis mehr. Die Realität ist, dass es keine Arbeit gibt und das es nicht hilft, das Betteln zu verbieten. Dies kommt einem moralischen Bankrott unserer Gesellschaft gleich."
Laut Anne-Catherine Reymond sind die Lebensbedingungen der nach Frankreich gezogenen Familien schlechter als jener in der Region Lausanne. "Die Familien sind gezwungen, regelmässig umzuziehen, wie die 30 Roma, die sich einem Lager in Grenoble angeschlossen haben - in der Hoffnung, von einem Hauch von Toleranz zu profitieren. Das Lager wurde jedoch an einem Win-termorgen geräumt und die Betroffenen mussten nach Chambéry, Avignon, Montpellier oder Deutschland weiterziehen. Dieses Bettelverbot verstärkt das Ausgrenzungsgefühl und verschärft die Situation der bereits stark stigmatisierten Bevölkerung."
Aufstieg des Antiziganismus
Vera Tcheremissinoff, Präsidentin von Opre Rrom, sprach über das Wiederaufleben des Antiziganismus in Europa. "Die Diskriminierung der Roma hat in der Europäischen Union, in der sie weiterhin Bürger zweiter Klasse sind, nicht abgenommen. In Mitteleuropa ist mehr als die Hälfte der Roma arbeitslos und die übrigen haben unsichere Arbeitsverhältnisse. In Rumänien und Bulgarien verlässt die Mehrheit der Kinder die Schule vorzeitig und überlebt in Ghettos. Europäische Hilfe erreicht die Menschen aufgrund lokaler Korruption nicht. Als europäische Bürger sollten sich Roma frei bewegen können, doch durch Gesetze wie das Bettelverbot werden sie vertrieben. Alles, was die Roma wollen, ist ein grösserer politischer Wille zur Respektierung ihrer Menschenrechte. Es gibt kein Roma-Problem. Es gibt ein Rassismus-Problem.“
Ein Gesetz, das die Freiheit bedroht
Eine Gruppe von Roma und Schweizer Persönlichkeiten hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) Berufung gegen das Bettelverbot eingelegt. "Dieses Verbot ist ein Verstoss gegen die persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit und Glaubensfreiheit", sagte Xavier Rubli, Anwalt der Kläger. "Am Boden zu sitzen und zu betteln ist ein Aufschrei, es ist eine Art, sich auszudrücken. Wir erlauben zwar kommerzielle Werbung auf der Strasse, aber um Hilfe zu bitten soll verboten sein. Das Ziel ist eindeutig, die Menschen, die uns belästigen, aus unserem Blickfeld zu entfernen, das Elend zu verbergen und nicht dagegen anzukämpfen. Ich füge hinzu, dass das Argument des Schutzes gegen Bettlernetzwerke nicht angemessen ist, da nach den durchgeführten Untersuchungen solche Netzwerke weder in Lausanne noch im Kanton Waadt existieren. Das Betteln zu verbieten bedeutet schliesslich auch, es Bürgern zu verwehren, Almosen zu geben, wenn sie das wollen", schliesst Xavier Rubli.
Den mitfühlenden Empfang fortsetzen
In diesem Zusammenhang bietet die Heilsarmee Lausanne weiterhin jeden Freitag in ihren Räumlichkeiten Hilfe für die Roma an. "Wir haben gesehen, wie sich dieses Gesetz auf die Empfangszahlen auswirkt", sagt Majorin Christine Staïesse, Offizierin der Heilsarmee. "Im Winter – bei Inkrafttreten des Gesetzes – verzeichneten wir noch 60 Personenbesuche. Danach fiel die Anzahl Besuche auf 15 herunter. Langsam steigen die Besucherzahlen wieder an, im Moment sind wir bei rund 30. Da die europaweite Situation so katastrophal ist, kehren immer mehr Roma zurück in die Schweiz, in der Hoffnung, eine würdige und tragfähige Lösung zu finden. Das Bettelverbot verstärkt nur das Gefühl der Ablehnung gegenüber den Roma, mindert aber nicht ihre prekäre Situation. Aber wir glauben, dass Liebe stärker ist als Ausgrenzung, also kämpfen und unterstützen wir weiter."
Autor
Sébastien Goetschmann
Publiziert am
9.5.2019