Die Gemeinde als Übungsfeld

Die Gemeinde als Übungsfeld

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Über Freud und Leid des Wechselsystems unterhält sich dialog mit Majorin Heidi Gubler und HR-Partner Martin Gygax.

Martin, was ist eigentlich der Grund, dass die Heilsarmee das Wechselsystem praktiziert?
Martin Gygax: Ich denke, die Idee stammt aus der Gründerzeit. Damals war die Heilsarmee noch keine Kirche, sondern eine Bewegung, die sehr schnell wuchs. Das war revolutionär: Einerseits gab sie biblische Wahrheiten weiter, andererseits reagierte sie sehr rasch auf soziale Bedürfnisse. Weil zeitnah ein Marschbefehl ausgesprochen werden konnte, gelang es der Organisation, sehr flexibel zu agieren. Dann ging es auch darum, diese Bewegung in verschiedene Länder auszubreiten, was oft durch das Einwechseln sehr junger Offiziere geschah. Aber auch heute wird das Wechselsystem von den Bedürfnissen gesteuert. Es wird nicht mehr strikt alle drei bis vier Jahre gewechselt. Die Schwierigkeit, welche sich heute stellt: Durch eine Vakanz entsteht oft ein Domino-Effekt. Die Herausforderung besteht darin, die Leute, die man zur Verfügung hat, an den richtigen Orten einzusetzen. Wo aber die Dinge gut laufen, wird eher nach der Devise entschieden: „never change a winning team“.

Heidi, wie hast du deinen beruflichen Lebenslauf im Wechselsystem erlebt?
Heidi Gubler: Wenn ich zurückschaue, sehe ich einen roten Faden: Die Wechsel passten mehrheitlich zu meinem persönlichen Leben. In den ersten Jahren machten wir viel Aufbauarbeit, das nahm Rücksicht auf die Familie. Die grosse Freiheit, welche die Korpsarbeit gibt, kommt der Berufstätigkeit beider Eheleute entgegen: Wir wohnten und arbeiteten im gleichen Haus, konnten gewisse Tätigkeiten kombinieren. Ich habe ein Foto von unserem Zweitältesten, als er noch ganz klein war, wie er in unserem Arbeitszimmer im Maxi-Cosi unter einer Schublade sitzt, während ich die Buchhaltung mache. Das kann man in keinem Büro, aber als Offizier geht das. Als ich ungefähr 40 Jahre alt war, übernahm ich Lehrtätigkeiten, später wurde mir ein Studium verordnet: Ich erinnere mich genau, wie mich Majorin Marianne Meyner anrief und sagte: „Die Direktion hat entschieden, dass du den Theologie-Master machst!“ Das war gut für mich, denn alle praktischen Erfahrungen, die ich bis dann gesammelt hatte, bündelten sich in diesem Studium.

Macht das Wechselsystem den Offiziersdienst attraktiv oder ist es eher ein Hemmschuh?
Martin Gygax: Das ist auch eine kulturelle Angelegenheit. In Afrika oder Indien gehen die Offiziere vermutlich mit dieser Frage anders um als in Europa. Ich kann mir gut vorstellen, dass dort weniger hinterfragt wird. Wir hier sind aber in einer Basisdemokratie verwurzelt und haben eher den Anspruch, dass man uns in Entscheidungen miteinbezieht. So steht die Heilsarmee Schweiz in einem Spannungsfeld: Es gilt, die Leute zu ernst nehmen, sie optimal zu platzieren und andererseits die Bedürfnisse der Organisation zu erfüllen. Dann kommt es drauf an, ob jemand mit der Freiheit, welche die Korpsarbeit bietet, gut umgehen kann. Einige lieben diese Freiheit und kommen mit jeder Art Aufgabe zurecht, andere empfinden die eine oder die andere Aufgabe vielleicht als Berg und leiden ein paar Jahre bis zum nächsten Wechsel, der sich gerade in solchen Fällen als segensreich erweist. Ein Offizier kann im Clinch stehen: Nimmt er die ihm zugeteilte Aufgabe aus der Hand Gottes an, oder darf er sie ablehnen, wenn sie ihm zu mächtig vorkommt?

Bestimmt gibt es aber auch immer wieder Aufgaben, die einfach super passen.
Heidi Gubler: Als ich in der Offiziersschule war, sagte man mir, es gebe im Leben eines Offiziers nur ein einziges „Korps unseres Herzens“, so wie für Paulus die Philipper. Ich weiss natürlich heute, welches mein Philippi ist. Aus der Sicht der Korps ist es so, dass der gleiche Offizier nicht für alle Menschen gleich geeignet ist. In meinen insgesamt sieben Korps gab es immer Leute, die mit uns besonders gut auskamen, und auch immer wieder solche, die mit uns nichts anfangen konnten. Das ist auch der Vorteil der Wechsel: Es können immer andere Gemeindemitglieder profitieren.

Was für unbekannte Fähigkeiten hast du während deines Offiziersdiensts an dir selbst entdeckt?
Heidi Gubler: Mir kam der Offiziersdienst sehr entgegen, weil ich jemand bin, der gerne viele verschiedene Sachen macht. In der Korpsarbeit ist man privilegiert, kann auswählen und Schwerpunkte setzen. Besuche, Gespräche, Zielgruppenangebote, Familienarbeit, Ehekurse, BabySong – ich bin einfach gerne mit Menschen unterwegs! Da ich ein nüchterner Mensch bin, fällt es mir leichter, die Angebote vor Ort mit den Leuten zu entwickeln, statt sie von oben herab durchzusetzen oder zu versuchen, die Menschen für fixfertige Programme zu begeistern. Das Projektorientierte entspricht mir sehr.

Wer trifft in der Heilsarmee den Entscheid, wer wohin verschoben wird?
Martin Gygax: Schon vor der Offiziersausbildung testet ein professionelles Auswahlverfahren die Kandidaten einerseits auf ihre Berufung, auf ihre Fachkompetenz hin, und darauf, als Person in Selbstmanagement arbeiten zu können. Während der Ausbildung und der Praktika wird immer wieder analysiert, bis sich beide Seiten einig sind, dass der Offiziersdienst passt. Nach der Ausbildung geht es in die praktische Arbeit vor Ort. Der Divisionschef hat die Führungsaufgabe und muss wissen, wo seine Leute stehen, was sie bewegt, wo sie an ihre Grenzen stossen und was sie für Entwicklungsmöglichkeiten aufweisen. Alle Informationen fliessen bei der Wechselkommission zusammen, die mit den Leuten ins Gespräch kommt. Die Schlussentscheidung liegt beim Landesleiter. Es ist heute viel mehr ein Miteinander als früher, damit es möglichst wenig Notlösungen geben muss. Und schliesslich stehen dort, wo es Probleme gibt, Instrumente wie Coaching, Organisationsentwicklung, Gespräche mit dem Divisionschef, Seelsorge, Weiterbildungen oder korpsinterne Gespräche zur Verfügung.

Wie hast du Situationen bewältigt, in denen es dir nicht gelang, dich heimisch zu fühlen?
Heidi Gubler: Die eine Ressource ist auf der geistlichen Ebene: Wenn ich hier bin, dann weiss das Gott. Ich bin eingeschlossen in seinem Plan, er ist mit mir, auch wenn ich noch an meiner Aufgabe leide. Die andere Ressource ist, dass ich mit den Leuten vor Ort ehrlich und transparent versucht habe, Lösungen zu finden, auch wenn wir nicht das Dreamteam waren. Wenn ich als Offizier ganz anders bin, als es sich die Leute erträumen, dann sind diese ja viel mehr davon betroffen als ich. Immerhin können wir Offiziere ein Stückweit mitreden, aber das Korps bekommt einfach jemanden vorgesetzt. Es kann dann also sein, dass ich nicht den Vorstellungen der Leute entspreche, dass es aber trotzdem möglich wird, gute Wege zu beschreiten und einander mit Wertschätzung zu begegnen. Das war für mich der grösste Gewinn dieses Prozesses, der eben auch dazugehört.

Wie wichtig ist dir dabei die Abhängigkeit von Gott?
Heidi Gubler: Für mich ist es ganz wichtig, zu erkennen, dass es eine Dimension gibt, die weit über das Menschliche hinausgeht. Dass ich Teil eines Ganzen bin, auch in Zeiten, in denen es nicht so gut läuft. Wie in der Natur: Es braucht auch den Winter, in dem es kalt und kahl ist, wenn alles zur Ruhe kommt und sich erneuert, damit später wieder etwas wachsen kann. An einem Ort erlebten wir, wie eine Öffnung stattfand und sich die Krisensituation löste. Doch das war nicht immer überall der Fall.

Wie ist es möglich, dass die Offiziere und ihr Korps gut miteinander auskommen?
Martin Gygax: An die Offiziere werden sehr grosse Anforderungen gestellt. Sie müssen ein enormes Spektrum abdecken. Dabei sind sie mit ihrer ganzen Familie wie in einem Schaufenster ausgestellt und bieten immer eine Angriffsfläche. Hinzu kommt, dass in unserem kleinen Territorium viele Angehörige der Heilsarmee miteinander verwandt sind. Wenn Offiziere wechseln, geht ihnen daher oft ein Ruf voraus. Das ist schade, denn auf diese Weise wird ihnen die Freiheit genommen, neu anzufangen. Die Gemeinde ist aber kein Wohlfühlclub, wo die Erwartungen eines jeden erfüllt werden können und müssen. Je mehr die persönliche Beziehung zu Jesus gelebt wird, desto mehr Übungsfeld darf die Gemeinde sein: Hier üben wir, das umzusetzen, was wir in der Stille, in der Begegnung mit Jesus lernen. Dann können die Offiziere und das Korps zusammen ein Zeugnis sein und Frucht tragen - für den Herrn, dem wir nachfolgen.

Welche Personen oder Prozesse können bei Konflikten hilfreich sein?
Heidi Gubler: Sehr wichtig ist, mit der Korpsleitung zusammen zu arbeiten, das sind die wichtigsten Leute. Was bei diesen Unterstützung findet, ist besonders tragfähig. Wichtig ist auch die Haltung des Vorgesetzten, des Divisionschefs. Dieser muss sich vor seine Offiziere stellen und im Korps erklären können, warum die betreffenden Offiziere das eine oder andere aus der persönlichen Situation heraus nicht bieten können. Das macht den Weg frei, korpsintern nach einer ergänzenden Lösung zu suchen oder gar Hand zu bieten für eine externe Lösung.

Wie habt ihr es geschafft, euren Kindern die Wechsel erträglich zu gestalten?
Heidi Gubler: Einmal, als wir nach nur sehr kurzer Zeit wechseln mussten, informierten wir die Kinder erst, als der Wechsel schon beschlossen war. Sie hatten dann bei uns zwei Wünsche frei. So wünschten sie sich zum einen Internetzugang, zum anderen eine Ratte als Haustier. Und wir mussten ihnen auch versprechen, sie für ein anderes Mal früher miteinzubeziehen. Das taten wir dann auch, und als der nächste Wechsel anstand, fällten wir einen demokratischen Familienentscheid. Wenn wir jeweils an einem neuen Ort waren, war es mir sehr wichtig, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen und offene Augen dafür zu haben, wie es ihnen geht. Diese Zeit ist nicht einfach, das weiss ich ja von mir selber. Ich habe aber das Gefühl, dass unsere Kinder nie ganz tiefe Wurzeln geschlagen haben, weil sie wussten, dass wir ohnehin nicht bleiben. Möglicherweise ist das auch ein Grund, weshalb bis jetzt keines unserer Kinder sesshaft geworden ist.

Ist es wirtschaftlich rentabel, Offiziere immer wieder herauszureissen, kaum dass sich Routine eingestellt hat?
Martin Gygax: Es ist schwierig, alle Faktoren beurteilen zu können, damit die Rentabilität bestimmt werden kann. Manchmal überwiegt der Verlust, manchmal der Gewinn. Heute bleiben die Offiziere viel länger am gleichen Ort, das gibt Ruhe, Kontinuität und Wachstum. Die Herausforderung ist, dass es viel schwieriger wird, überhaupt einen Wechsel zu vollziehen. Wenn jemand kommt, der alles ganz anders macht, besteht das Risiko, dass vieles relativ rasch zusammenbrechen kann. Wichtig scheint mir, herauszuspüren, wann sich ein gewisser Trott einstellt. Allerdings ist der Beruf des Offiziers sehr breit. Kann mit dieser Freiheit nicht richtig umgegangen werden, ist es eher eine Frage der jeweiligen Persönlichkeit und nicht des Berufs an sich.

Offiziers-Ehepaare arbeiten sehr oft zusammen. Welches sind die Chancen und Risiken des gemeinsamen Dienstes?
Heidi Gubler: Man kann sich gut ergänzen und zusammen mehr anbieten als alleine. Für das Korps ist es von Vorteil, wenn sich zwei Offiziere beim Predigen und bei der Betreuung der Leute abwechseln. Dies bedingt aber, dass ein Ehepaar gut und gerne zusammenarbeitet. Und die Konflikte müssen spätestens bis Sonntag ausgetragen sein, denn man kann keinen Gottesdienst zusammen gestalten, wenn man nicht miteinander im Reinen ist. Mein Mann hat immer voll gearbeitet und ich nur soviel, wie es mit der Familienarbeit vereinbar war. Das machen die jungen Leute heute anders und es ist eine grössere Freiheit da: Es gibt Offiziere, die Frauengruppen leiten, und Offizierinnen, die Männergruppen leiten, das wäre zu meiner Zeit undenkbar gewesen. Da mir das Thema des gemeinsamen Dienstes wichtig ist, biete ich auf der Basisstufe der Offiziersausbildung einen entsprechenden Kurs für Ehepaare an.

Ist es innerhalb der Heilsarmee möglich, dass die Frau einen höheren Grad einnimmt als ihr Mann?
Martin Gygax: Grundsätzlich ja: Die Frau kann die Vorgesetzte ihres Ehemannes sein. Es ist aber die Ausnahme. Dies hängt aber stark vom einzelnen Ehepaar ab, welche Art von Team es bildet. Ratsam ist, dass die Offiziere mit dem Korps abstecken, wie sie gemeinsam arbeiten wollen. Wenn die Erwartungen des Korps bei 200 % liegen und es sind vier kleine Kinder da, ist das natürlich unrealistisch. Man muss zusammen schauen, wieviel Prozent machbar sind und wie Mann und Frau dies unter sich aufteilen wollen. Es ist wichtig, dies offen zu diskutieren, damit aufgrund falscher Erwartungen kein Druck entsteht und die Ehe der Offiziere darunter leidet.

Heidi Gubler: Es gibt bezüglich der Hierarchie keine Richtlinien in der Heilsarmee. Allerdings wird nur selten praktiziert, dass die Frau einen höheren Rang hat als ihr Mann. Eine amerikanische Offizierin hat gerade ihre Doktorarbeit über das Thema Gleichberechtigung innerhalb der Heilsarmee geschrieben. Daraus wird ersichtlich, dass nur sehr wenige verheiratete Offizierinnen in Leitungsfunktionen stehen. Geschiedene, verwitwete oder Single-Frauen sind eher in Führungspositionen. Es gibt verheiratete Frauen, die diesbezüglich Zurückhaltung üben, weil sie ihre Männer nicht verletzen wollen. Oft wird seitens der Heilsarmee die Führungseignung nicht im Einzelfall geklärt. Ich denke aber, dass das jetzt vermehrt kommen wird, weil wir immer weniger Offiziere haben. Ich sehe ein grosses Potenzial darin, wenn man bei allen Ehepaaren genau hinschaut: Was bringt sie mit? Was bringt er mit? Dann können sie spezifisch eingesetzt werden. Wenn das systematisch gemacht wird, dann bin ich überzeugt, dass wir den Offiziersmangel abfedern können.
 

Autor
Livia Hofer

Publiziert am
2.10.2017