„Seelsorge muss in Freiheit geschehen“

„Seelsorge muss in Freiheit geschehen“

In den Wohn- und Werkstätten Buchseegut in Köniz werden die Leitlinien Christliche Soziale Arbeit in einer Pilotsituation getestet.
In den Wohn- und Werkstätten Buchseegut in Köniz werden die Leitlinien Christliche Soziale Arbeit in einer Pilotsituation getestet.
© Markus Gerber / Lizenzfrei

Wie wird christliche Spiritualität in den Wohn- und Werkstätten Buchseegut gelebt? Ein Gespräch mit den Verantwortlichen vor Ort.

Zu Beginn des Jahres hat das Sozialwerk der Heilsarmee Schweiz die „Leitlinien Christliche Soziale Arbeit“ erarbeitet (im Folgenden Leitlinien genannt). Das umfangreiche Handbuch stellt das Bekenntnis der Heilsarmee zu ihrem christlich motivierten Auftrag dar. Sowohl wissenschaftlich als auch theologisch fundiert, setzt sich das Werk mit christlichen Grundwerten auseinander und wie sie in der sozialen Arbeit anzuwenden sein könnten. Es thematisiert desweiteren die Chancen und Risiken einer christlichen sozialen Arbeit und legt Handlungs­ansätze und Praxisbeispiele dar. Die Leitlinien sollen im Januar 2019 an der Führungsschulung des Sozialwerks präsentiert und anschliessend nach und nach in allen sozialen Institutionen der Heilsarmee Schweiz umgesetzt werden. Seit Frühling dieses Jahres werden die Leitlinien in den Wohn- und Werkstätten Buchseegut in Köniz in einer Pilotsituation getestet. Die Redaktion Heilsarmee sprach mit Markus Gerber (Institutionsleiter), Claude Gafner (Bereichsleiter Wohnen) und Silvio Schoch (Betreuer und Seelsorger) über christliche Spiritualität im Kontext ihrer sozialen Arbeit.

Warum wird das Leitlinien-Pilotprojekt in den Wohn- und Werkstätten Buchseegut durchgeführt?
Markus Gerber:
Christian Rohrbach, Regionalleiter Soziale Institutionen Mitte, kam auf uns zu, weil das Buchseegut eine gewisse Grösse hat, und seit jeher die christlichen Grundwerte im Institutionsalltag auch berücksichtigt werden.

Wer nimmt innerhalb Ihrer Institution am Pilotprojekt teil?
Markus Gerber:
Darin involviert ist das Betreuungsteam, welches die grösste Nähe zu unseren Bewohnerinnen und Bewohnern hat. Das Führungsteam wird laufend darüber informiert, wo sich der Prozess befindet. Christian Rohrbach, Geschäftsleiter Institutionen Mitte, der die Schnittstelle zum Sozialwerk bildet, nimmt an den Supervisionen teil, die im Rahmen des Pilotprojekts unter der Leitung des Theologen und Psychotherapeuten Roland Mahler und Marc Peterhans, Institutions- und Schulleiter des Instituts für Christliche Psychologie ICP.

Welches sind die Probleme, mit denen die Bewohnerinnen und Bewohner des Buchseeguts zu kämpfen haben?
Claude Gafner:  Unsere Bewohnerinnen und Bewohner haben Einschränkungen psychischer oder kognitiver Natur, leiden oft an psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder an einer Suchtkrankheit, teilweise mit Überschneidungen und Mehrfachthematik.

Wie geht Ihre Institution im Kontext der sozialen Arbeit mit christlichen Grundwerten um, beispielsweise mit den Werten „Würde“ oder „Versöhnung“?
S
ilvio Schoch: Der Wert der Würde bedeutet zum Beispiel, dass die Personen, die hier arbeiten, den Bewohnern auf Augenhöhe begegnen. Dass sie diese ernst nehmen und nicht nur ihre kranken Anteile, sondern auch ihre gesunden sehen. Zum Wert der Versöhnung gehört, dass wir lernen, untereinander Fehler einzugestehen und im Alltag zwischenmenschlich aufeinander zuzugehen. Als Seelsorger dieser Institution habe ich auch erlebt, dass sich Bewohner mit Gott versöhnt haben. Sie sagten: Ich möchte mich Gott zuwenden, was muss ich tun? Können wir zusammen beten? Manchmal aber ist im Leben unserer Bewohner Versöhnung sehr schwierig und wird abgeblockt, wenn es Verwandte betrifft. Dies respektieren wir.
Claude Gafner: Doch auch solche Versöhnung war möglich. Zum Beispiel bei einem Bewohner, der aufgrund eines Zerwürfnisses seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr mit seiner Schwester hatte. Als sein Vater starb, begleiteten wir ihn an die Beerdigung. Dabei öffnete sich ein Weg für die Versöhnung mit seiner Schwester. Ein  klärendes Gespräch zwischen den beiden Geschwistern fand in unserer Instiution statt und wurde von unserem Seelsorger Silvio Schoch moderiert. Doch für solches muss der Moment reif sein. Wir können Versöhnung nicht erzwingen. Wenn aber das Thema aufkommt, können wir es angehen. Auch den Wert der Würde versuchen wir konkret umzusetzen. Unsere Bewohner neigen oft zu Verwahrlosungstendenzen bei den Kleidern. Wir motivieren sie, einigermassen sauber daherzukommen, damit es ihnen nicht schon von Weitem anzusehen ist, dass sie am Rand der Gesellschaft leben.

Wie bringen Sie einen Bewohner dazu, dass er sich äusserlich mehr Sorge trägt?
Claude Gafner:
Wir ermutigen ihn zum Beispiel, ein neues T-Shirt anzuziehen, wenn er aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr realisiert, dass er ein schmutziges Kleidungsstück trägt. Gleichzeitig weisen wir ihn darauf hin, dass er noch andere, schöne T-Shirts im Kleiderschrank hat. Oder wir loben ihn, wenn er in einem frischen, sauberen Hemd daherkommt.
Silvio Schoch: Manchmal müssen wir aber auch darauf bestehen, dass ein Bewohner die Kleider wechselt. Andererseits muss man ihm die Freiheit lassen: Wenn er so herumlaufen will, dann ist das sein Recht. Es ist immer wieder eine Gratwanderung und ein Abwägen der Person und der Situation. Auf einem schwierigen Punkt herumzureiten würde bedeuten, mit dieser Person auf eine negative Beziehungsebene zu kommen. Es ist es nicht wert, dass die Beziehung dadurch zerstört wird. Beziehung ist die Grundlage. Wenn diese stimmt, können viele Dinge darauf aufgebaut werden.

Wie leben Sie den Wert der Nächstenliebe?
Claude Gafner:
Professionelle soziale Arbeit basiert unter anderem auf Abgrenzung: Die Beziehung basiert zunächst auf einem professionellen Mandat, was sich von einer rein freundschaftlichen oder familiären Verbindung unterscheidet. Was aber bedeutet Nächstenliebe in einem professionellen Kontext? Wir sind der Ansicht, dass dies nicht ausschliesslich an Handlungen, sondern an einer Haltung dingfest gemacht werden muss. Sehe ich in einem Bewohner den Menschen oder nur Klient X? Bin ich mir bewusst, dass auch ich dieser Nächste sein könnte? Dass auch ich auf seiner Seite stehen würde, wenn es in meinem Leben andere Wendungen gegeben hätte? Die Nächstenliebe schärft mein Bewusstsein, trotz aller Professionalität einem Menschen so entgegenzutreten, dass er in diesem Moment mein Nächster ist. Ein Grundwiderspruch aber bleibt und ist oft Inhalt unserer Gespräche im Betreuungsteam anhand konkreter Situationen aus dem Alltag.

Ist das Betreuerteam daran interessiert, christliche Spiritualität in ihre Arbeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern hineinzubringen?
Claude Gafner: Jeder Betreuer, jede Betreuerin muss selber wissen, wie weit er oder sie sich „hinauslehnt“. Es gibt Situationen, in denen ein Klient möchte, dass die Bezugsperson mit ihm betet. Für einige Betreuer ginge dies aber zu weit. Das ist sehr individuell. Nicht jede Betreuungsperson hat auch biografisch bedingt den gleichen Zugang im Glauben. Und genauso verhält es sich mit unseren Bewohnern. Wir decken im Bereich der Spiritualität ein sehr grosses Spektrum ab.  Wo ein Bewohner aber mehr über den christlichen Glauben erfahren möchte, stehen geschulte Mitarbeiter zur Verfügung, die ihn darin unterstützen. Sehr hilfreich ist, dass wir auch ein spirituelles Angebot haben, in dem immer wieder christliche Themen aufgenommen werden.

Was sind die spirituellen Angebote im Buchseegut?
Silvio Schoch: Eines der Angebote heisst Begegnungsabend und findet alle 14 Tage statt. Ein Beispiel: Anhand der Erzählung von den Emmaus-Jüngern behandelten wir das Thema „blinder Fleck“. Im Alltag merken wir ja, dass sich die Eigenwahrnehmung oft von der Fremdwahrnehmung unterscheidet, woraus sich auch Konflikte ergeben. Ich erstellte ein Bodenbild mit Jesus, den Emmaus-Jüngern, Berge, Schafe usw. Was könnte das für eine Geschichte sein? Was wisst ihr von den Emmaus-Jüngern? Wir sahen uns dazu ein Videoclip an. Worum geht es? Die Jünger erkannten Jesus nicht! Habt ihr schon mal etwas von einem blinden Fleck gehört? Jemand aus der Gruppe konnte den Begriff erklären, worauf wir Beispiele aus dem persönlichen Alltag zusammentrugen. Dann spielten wir das Spiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Anlässe dieser Art müssen sehr einfach sein, auf Stufe Kind, aber nicht kindisch, sondern im Erwachsenenkontext. Wichtig ist mir auch, dass die Teilnehmer untereinander kommunizieren. Die einzelnen haben sehr viele Ressourcen, Erfahrungen und unterschiedliche Weltbilder, die sie einbringen können. Dann frage ich: Was meinen die anderen dazu? Oft sind es konträre Ansichten, die im Raum stehen. Ziel ist, dass alle mitdiskutieren und auch lernen, einander zuzuhören. Wir arbeiten immer sehr praktisch, mit einem Bodenbild, mit Werkzeugen und ähnlichem. Ein weiteres Angebot ist die Sederfeier: Für die Bewohner organisieren wir an Karfreitag ein feines Abendessen an einem grossen, weiss gedeckten Tisch. Mit der Symbolik, dem Spüren und dem Erleben kommen wir der Kreuzigung Jesu auf der Spur.
Claude Gafner: Für unsere Bewohner kann eine traditionelle Form der Glaubensvermittlung überfordernd sein. Viel zielführender ist, wenn dies über sinnliche Erlebnisse geht, welche die Bibel für diese Menschen erfahrbar machen. Wir können unsere Bewohner mit klassischen Gottesdiensten nur schwer erreichen, sei es, weil die kognitiven Voraussetzungen dazu nicht da sind, oder weil die Konzentrationsfähigkeit stark eingeschränkt ist. Das ist unsere Arbeit: Mit unserem christlichen Grundverständnis versuchen, diese Thematik so zu transportieren, dass sie von unseren Bewohnern ganz praktisch erlebt werden kann.

Gibt es in Ihrer Institution Betreuer, die bei der Arbeit evangelisieren?
Silvio Schoch: Gerade bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder mit einer Schizophrenie-Erkrankung ist die Glaubensvermittlung sehr delikat. Es besteht das Risiko, dass sie alles komplett missverstehen. Wenn Mitarbeiter über den Glauben sprechen, dann erzählen sie von sich selber, von ihrem persönlichen Erleben mit Gott und von den eigenen christlichen Erfahrungswerten. Hier liegt die Grenze zum Missionarischen: Im Betreuungsteam besteht die Überzeugung, dass kein Druck entstehen darf.
Markus Gerber: Eine Person mit diesem Krankheitsbild, für die Beziehungen zu Mitmenschen schwierig zu gestalten sind, wird auch mit Beziehung im geistlichen Sinn Mühe haben. Ebenso stellt sich die Frage: Wo liegt der Unterschied zwischen dem sozialen Auftrag, den wir haben, und einem pastoralen Mandat, das kirchlich angesiedelt ist? Freilich lässt sich dies nicht immer scharf trennen. Ein Gebet der Ermutigung oder die Anteilnahme in einem Trauerprozess dürfen absolut Platz haben. Will aber ein Bewohner im Gebet eine Schuldfrage  thematisieren oder seine Beziehung zu Gott klären, dann gehört das in ein seelsorgerisches Setting. Als Bezugsperson habe ich den sozialen Auftrag, eine Person zu begleiten. Das heisst aber auch, dass ich zuweilen Konsequenzen oder Massnahmen durchsetzen muss. Bin ich gleichzeitig Seelsorger, gibt das eine Vermischung, die schwierig wird.
Silvio Schoch: In unseren christlichen Angeboten geht es uns darum, über Jesus zu informieren. Und dann muss es ein Wirken Gottes in einem Leben sein, woran wir anknüpfen können, alles andere ist Manipulation. Das ist die Aufgabe, die wir haben: Dort, wo das Interesse vorhanden ist, christliche Inhalte vermitteln, aber nicht aufzwingen.

Das Interesse muss also vom Bewohner aus kommen?
Claude Gafner: Das Interesse muss massgeblich vom Bewohner aus kommen. Als Sozialpädagoge ist der Betreuer in erster Linie da, das Wohlbefinden der Klienten zu sichern: Wohnen, Gesundheit, Finanzen, Arbeit, Freizeit. Spiritualität gehört selbstverständlich auch dazu, aber es gibt auch Grenzen, was man noch selber macht und was man an die interne oder gar die externe Seelsorge delegiert.

Was geschieht aber, wenn sich ein Bewohner lieber seiner Bezugsperson anvertrauen möchte, die er kennt, statt einem Pastor, den er nicht kennt?
Markus Gerber: Wenn man davon ausgeht, dass der Heilige Geist in einer Person wirkt, dann können wir auch darauf vertrauen, dass er diese Person in einem seelsorgerischen Setting weiterhin begleiten wird. Dieser Prozess ist nicht auschliesslich an eine Person gebunden. Nicht ich als Betreuer bin die heilsbringende Person, denn dann wäre es nicht das Wirken Gottes. Seelsorge muss in Freiheit geschehen, und Freiheit bedeutet auch, Grenzen zu setzen.

Gibt es im Gegenzug auch Betreuer, die sich der Umsetzung der Leitlinien widersetzen?
Claude Gafner: Das habe ich nicht erlebt. Vielmehr sind Befürchtungen ausgesprochen worden, dass im Glauben auch ein Missbrauchspotenzial liegt. Diesen Befürchtungen mussten wir zu Beginn in unseren Gesprächen viel Raum geben.
Silvio Schoch: Die einen Mitarbeiter sehen von ihrer Biographie her mehr das, was im christlichen Glauben schwierig oder gar krankmachend ist. Andere betonen von ihrem persönlichen Erleben her das, was gesund macht. Der grösste Diskussionspunkt ist: Dürfen oder sollen wir bei Interesse das Evangelium erklären? Wie darf oder soll dies artikuliert werden? Hier gibt es im Team unterschiedliche Meinungen.
Markus Gerber: Auch ich erlebe keinen Widerstand, sondern positive Diskussionen. Unsere Mitarbeiter kennen ja die Werte, die hinterlegt sind. An Vorstellungsgesprächen erkläre ich jeweils, dass wir in einem Spannungsfeld stehen:  Wir sind eine soziale Institution, wir sind keine Kirche, wir sind Heilsarmee. Das zahlt sich jetzt in unseren Diskussionen aus. Auf der Wertebasis können wir uns allermeist gut finden. Und sobald die persönliche Biographie hineinkommt, muss man über unterschiedliche Meinungen und Haltungen diskutieren dürfen. Das erlebe ich als konstruktiv.

Was hat die Auseinandersetzung mit den Leitlinien dem Team und der Institution gebracht?
Markus Gerber: Wir wurden sensiblisiert, wach zu sein, wenn im Alltag Fragen geistlicher Art aufkommen. Dies kann spontan geschehen, genauso schnell kann das Thema wieder weg sein, wenn die Person ihre Konzentrationsspanne nicht über ein längeres Gespräch aufrechterhalten kann. Deshalb kann es auch schwierig sein, einen Bewohner an eine externe Seelsorge zu vermitteln. Mit dem Angebot der internen Seelsorge sind wir daher in unserem Setting auf dem richtigen Weg. Ebenso wertvoll erachte ich die Sensibilisierung der Bezugspersonen, die nun wissen: Sie dürfen auf geistliche Fragen eingehen. Und sie wissen, wie sie als Bezugsperson reagieren können und wann die Fragen weiterzugeben sind. Zudem hätten wir im Team vor zwei oder drei Jahren nicht auf diese Weise diskutieren können. Das ist für mich der grosse Gewinn der Leitlinien, wir sind in Fragestellungen dieser Art sprachfähiger geworden.
Claude Gafner: Die Auseinandersetzung mit den Leitlinien ist gleichzeitig auch ein Gruppenprozess: Jeder und jede muss sich ein stückweit positionieren, man lernt einander neu kennen und sortiert sich neu als Team. Man wird sich selber bewusst: Was ist mein Auftrag, wo sind die Grenzen. Das ist der Nutzen, der darüber hinausgeht.

Autor
Livia Hofer

Publiziert am
28.11.2018